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  • Anthropologie und Ästhetik. Interdisziplinäre Perspektiven Herausgegeben von Britta Herrmann
  • Carl Niekerk
Anthropologie und ästhetik. Interdisziplinäre Perspektiven. Herausgegeben von Britta Herrmann. Paderborn: Fink, 2019. vi + 338 Seiten + 17 s/w Abbildungen. €79,00 / $90.00 broschiert oder eBook.

,,Anthropologie" ist die Wissenschaft vom Menschen, und ästhetik wird seit Hegel gemeinhin als Kunst-Lehre verstanden, obwohl gelegentlich die ältere Bedeutung des Begriffs als ,,Lehre der sinnlichen Erfahrung" auch heute noch mitschwingt. Bei beiden Begriffen handelt es sich im Wesentlichen um noch bis heute fortwirkende Erfindungen des (späten) achtzehnten Jahrhunderts, was in der Vorrede dieses Sammelbandes am Beispiel von Herder und Schiller kurz dargestellt wird, wobei auch die ,,Kehrseite" dieser Konstellation angedeutet wird (11). Um ein systematisches Verständnis von Mensch und Kunst geht es im vorliegenden Band kaum; es wäre deshalb vielleicht besser, von Fallstudien zur Geschichte der Anthropologie und ästhetik zu sprechen. Gerade aber das Konkrete und Handgreifliche, und damit auch das Unsystematische, der hier gesammelten Fallstudien zur Ästhetischen (und medialen) Dimension in der Erfahrung des Menschlichen machen den Reiz dieser Sammlung aus, deren Beiträge vielfach innovative kulturwissenschaftliche Ansätze formulieren.

Zur historischen Kontextualisierung der heutigen Debatten um den Anthropologie-Begriff trägt vor allem Petra Bodens wohlrecherchierte Fallstudie zur Gruppe ,,Poetik und Hermeneutik" bei. Boden zeigt, wie sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren ,,Anthropologie" in kultur- und geistesgeschichtlichen Diskussionen als Alternative zur Geschichtsphilosophie herausbildet. Diese Neueinführung eines alten Begriffs versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass ab dem Anfang der Neuzeit der Wahrheitsgehalt der Realität generell nicht mehr als garantiert gilt, sondern laut Hans Blumenberg immer mehr als ,,Weltbild" wahrgenommen wird, das Teil einer Pluralität miteinander konkurrierender Weltmodelle ist (103). Die Realitätserfahrung wird brüchig und dissonant, aber auch historisch und kulturell differenziert und schafft dem Subjekt damit neue Handlungsmöglichkeiten. Solchen Auffassungen widersprach der Geschichtsphilosoph Dieter Henrich, der am Subjekt als Akteur der Geschichte und damit an einem einheitlichen Geschichtskonzept festhalten wollte. Die Literatur fungierte in dieser Debatte als Katalysator; die Debatte führte zu einer Reihe von Veröffentlichungen, unter ihnen Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt (1979), deren kulturgeschichtliche Ansätze weit über die Literatur hinausführen.

Besonders relevant in diesem Band sind auch diejenigen Beiträge, die den Zusammenhang von Anthropologie und ästhetik auf seine medialen Aspekte hin befragen. Dies gilt zum Beispiel für Holger Schulzes Aufsatz zur ,,Idiosynkrasie der Sinne", der sich vor allem mit nicht-kodifizierten Klängen in zeitgenössischer Kunst und Politik auseinandersetzt (eine Disziplin, die oft als sound studies bezeichnet wird). Schulze fokussiert die technischen und kulturellen Dispositive (was sich als ,,Regelmechanismen" übersetzen ließe), die die mediale Vermittlung von Information in Kunst, Politik und Gesellschaft heute ermöglichen. Seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert geht es laut Schulze in diesen drei Bereichen nicht mehr um die Vermittlung von spezifischen, rational legitimierten Aussagen oder bestimmten Empfindungen, sondern vor allem um habitualisierte Reaktionsmuster, ,,vorgefertigte sensorischemotionale Artefakte", die die einzig möglichen Empfindungsformen zu sein scheinen und dabei alles, was nicht zu ihnen passt, als nicht-existent ausschließen (144). (Ganz ähnlich spricht Martin Seel in seinem Aufsatz zur Anthropologie des Kinos in Anlehnung [End Page 529] an Adorno von der ,,aktiven Passivität" des Kinogängers, 203.) Das klingt alles recht pessimistisch, hätte unsere hochmedialisierte Gesellschaft mittlerweile nicht auch eine Reihe von Protestformen hervorgebracht, die sich insbesondere im Medium der Kunst manifestieren und die gleichen Mechanismen für sich nutzen.

Ein ausgezeichnetes Beispiel solcher Protestformen bietet Carrie Smith in einem Aufsatz, der ,,digitale Anthropologie" und ,,intersektionalen Feminismus" zu verbinden sucht, wobei es dem letzteren nicht nur um Gender und Sexualität, sondern auch um Rasse, Ethnizität, ökonomische Klasse und Nationalität als identitätsstiftende Faktoren geht (179). Smith will mit diesem Instrumentarium einerseits die Einwirkung digitaler Medien auf den Menschen, andererseits aber auch Widerstandsstrategien in all ihrer Komplexität analysieren. Sie richtet ihr Interesse vor allem auf die Allianzen zwischen digitalen Räumen und dem (weiblichen) Körper in seiner Materialität. Als Beispiel nennt sie die 2008 in der Ukraine gegründete Gruppe Femen, die weltweit durch eigensinnige Aktionen und unter Benutzung digitaler Medien mit nackten Körpern gegen patriarchalische Denk- und Verhaltensmuster protestiert. Smith macht dabei auch...

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