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  • Ende gut, alles gut?Soziokulturelle Assimilation und unzuverlässiges Erzählen in Theodor Storms Pole Poppenspäler
  • Stefan Hermes

Nur eine Maske ist di?ese bourgeoiseLebensgestaltung, hinter der sich derwilde und unfruchtbare Schmerz einesverfehlten, vernichteten Lebens, derLebensschmerz des zu spät gekommenenRomantikers verbirgt.

(Lukács 90)

Zur Einführung: Happy endings bei Storm?

Mit der Novelle Pole Poppenspäler, die erstmals 1874 in der Zeitschrift Deutsche Jugend erschien, widmen sich die folgenden überlegungen einem von Theodor Storms besonders prominenten Texten.1 Zugleich handelt es sich um eine Erzählung, die für Storms Gestaltung von Liebesplots in doppelter Weise typisch ist. So gehört sie zu seinen zahlreichen Werken, die eine durchaus erotisch aufgeladene Beziehung zwischen zwei Kindern schildern.2 Typisch für das Storm'sche Œuvre erscheint die Novelle aber auch dadurch, dass die weibliche Hauptfigur einen südlich-,exotischen' Menschenschlag repräsentiert – ein Umstand, der späterhin der genaueren Betrachtung bedarf.3

Indes weicht Pole Poppenspäler in anderer Hinsicht merklich von den Mustern ab, die bei Storm regelmäßig anzutreffen sind. Denn die Schlusspartien des Textes künden keineswegs von erzwungener Entsagung, sozialer Demütigung oder einer todbringenden (Natur-)Katastrophe, sondern – zumindest ergibt sich ein entsprechender erster Eindruck – von erfüllter Liebe: Zum Zeitpunkt der Narration kann der Titelheld, der auch als intradiegetischhomodiegetischer Erzähler fungiert, auf eine langjährige, von ihm als ungemein harmonisch bewertete Ehe zurückschauen. Resignation, Verzweiflung und Trauer scheinen also, anders als es bei Storm üblich ist, nicht zu triumphieren. Demgemäß hat man festgestellt, dass es sich bei Pole Poppenspäler [End Page 392] um eine ,,glücklich endende[ ] Novelle" handle: ,,Immer wieder drohen negative Ereignisse", so Winfried Freund (Erläuterungen 44), doch ,,[i]mmer wieder […] setzt sich das Positive […] durch".4 In Analogie dazu sei der Protagonist als ,,vorbildliche Gestalt" (Freund, Storm 89), d. h. als bürgerliches role model entworfen, welches jede (romantische) Kunstschwärmerei überwindet und ein rational-verantwortungsbewusstes Daseinskonzept entwickelt.5

Allerdings soll im weiteren Verlauf die (Gegen-)These erhärtet werden, dass eine solche Einschätzung der Komplexität von Pole Poppenspäler nicht gerecht wird. Vielmehr wartet die Novelle mit einem äußerst fragwürdigen happy ending auf: Von einem durch und durch ,untragisch'-freudvollen Ausgang kann nur dann die Rede sein, wenn man die Perspektive der männlichen Hauptfigur mit derjenigen des Gesamttextes gleichsetzt und ihre Bewertungen der Geschehnisse vorbehaltlos akzeptiert6 – was nicht zuletzt hieße, dass man die (psychischen) Gestehungskosten ausblendet, welche die (äußerliche) Lö-sung aller Konflikte mit sich bringt. Dies aber wäre schwerlich angemessen, zumal in der Novelle ein dezidiert unzuverlässiges Erzählen zu registrieren ist. Daher gilt es nun zunächst, die Kerncharakteristika dieses seit geraumer Zeit intensiv diskutierten Phänomens zu skizzieren. Anschließend wird zu zeigen sein, inwiefern Storms Text eine Einordnung der von seinem Protagonisten geschilderten Ereignisse nahelegt, die mit dessen Sichtweise keineswegs kongruiert.7

Aspekte unzuverlässigen Erzählens

Wie bereits angedeutet, kann die narratologische Debatte um das Konzept des unzuverlässigen Erzählens, die 1961 mit Wayne C. Booths Monographie The Rhetoric of Fiction einsetzte und seit den 1990er Jahren spürbar an Fahrt gewonnen hat, hier nicht rekapituliert werden.8 Vermerkt sei lediglich, dass der Begriff ein literarisches Erzählen bezeichnet, das Inkongruenzen und/oder Widersprüchlichkeiten aufweist und dadurch eine nachgerade detektivische Lektüre provoziert: Die RezipientInnen gehen auf Abstand zur Erzählinstanz – die in der Regel, aber nicht notwendigerweise die Ich-Form verwendet – und entwickeln auf der Basis ,,implizite[r] Zusatzinformationen" (A. Nünning, Grundzüge 6) eine zweite, triftigere Version der dargestellten Begebenheiten.9 Ursächlich für die mangelnde Vertrauenswürdigkeit eines Erzählers bzw. einer Erzählerin können Wissenslücken oder auch psychische Beeinträchtigungen sein; in manchen Fällen aber will er bzw. sie gar nicht wahrheitsgetreu berichten, sondern zum Beispiel eigene (Straf-)Taten vertuschen (vgl. Volpp 70–75).10

In der Forschung sind verschiedentlich Kataloge von textuellen Anzeichen für unzuverlässiges Erzählen erstellt worden: Darunter fallen prekäre Sachverhaltsschilderungen, Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdbild [End Page 393] der Erzählinstanz oder auch deren übermäßige emotionale Involviertheit (vgl. A. Nünning, Grundzüge 27–29, Be...

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