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  • Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes by Johanna Zorn
  • Lore Knapp (bio)
Johanna Zorn, Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes, Forum Modernes Theater 49, Tübingen Narr Francke Attempto Verlag 2017, 275 Seiten.

Johanna Zorns Buch Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes analysiert drei späte Theaterarbeiten Schlingensiefs: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Mea Culpa (2009) und Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen!Herr Andersen stirbt in 60 Minuten (2009), in denen der an Lungenkrebs erkrankte Regisseur sein eigenes Leben „von der Grenze des [End Page 212] bevorstehenden Todes her" (S. 16) zum zentralen Thema machte.

Der fünfte Punkt des zweiten Kapitels ist der Kern der Arbeit. Hier beschreibt Zorn das Theatergenre ‚Autobiotheatralität'. Sie geht von einer Vielzahl an Bezügen aus, die im ästhetischen Ausdrucksfeld der Autobiographie Tradition haben. Dazu gehören die analytische Selbstaussprache im Tagebuch, religiöse Beicht- und Bekenntnisformen und die psychoanalytisch geprägte Gesprächstherapie. In Schlingensiefs Inszenierungen erscheinen sie, so analysiert Zorn, durchgehend in theatral-medial transformierter Gestalt, wenn etwa das Selbstbekenntnis als Tonband-Dokument eingespielt und darüber hinaus auch von Schauspielern vorgetragen wird. Dabei entwickelt Schlingensief die Techniken der photographischen und filmischen Mehrfachbelichtung weiter und entlockt dem Theater Möglichkeiten, die aus der Literaturgeschichte bekannten Momente der Ich-Multiplikation und des Doppelgänger-Motivs in eine mehrschichtige, multiperspektivische Medialisierung der eigenen Person zu überführen. So werden auf der Bühne verschiedene Lebenszeiten des Ichs collagiert. In Kirche der Angst lässt Schlingensief „einen Film, auf dem er als Kind zu sehen ist, mit seiner Tonbandstimme aus der jüngsten Vergangenheit kollidieren. In Mea Culpa wiederum kommentiert er im Rahmen eines Auftritts seine als Film archivierte Vergangenheit als Regisseur" (S. 110). Zorn beschreibt bezogen auf diese beiden Inszenierungen sowohl analytisch-zerlegende Darstellungsmodi, die das Ichvervielfältigen, als auch komponierende Techniken, mit denen die Ich-Fragmente wieder zu Effekten des Ichs zusammengesetzt werden.

Als Pointe eines groß angelegten Abrisses der Geschichte der Autobiographie im zweiten Kapitel von Augustinus über Rousseau und Goethe bis zu Dilthey und Misch, Lejeune, Pascal, Lacan, Derrida und anderen unterscheidet Zorn schließ-lich drei Formen der theatralen Selbstpräsentation Schlingensiefs: Erstens stellt Schlingensief sich selbst dar (Autopräsenz), zweitens wird sein Leben in filmischen, fotografischen und akustischen Dokumenten präsentiert (autopräsentes Archiv) und drittens lässt er Schauspieler sein Ich verkörpern (Autofiguration). Darüber hinaus spielt Schlingensief auf der Bühne selbst Rollen oder wird in den Rollen anderer Schauspieler erkennbar. Haben die dargestellten Figuren selbst mythischen Status, so spricht Zorn von einer Automythographie, bei der Schlingensief „sich mitsamt seinem prekären existentiellen Zustand in eine Legende" wie Parsifal, Amfortas oder Beuys einschreibt (S. 109). Verglichen mit literarischen Autobiographien wird die sprachliche Wiedergabe des Eigenen, wenn Schlingensief selbst auftritt, durch den repräsentational-verkörpernden Charakter des Theaters intensiviert, und der Erkenntnis, dass durch literarische Sprache das eigene Selbst erst geschaffen wird, entspricht der performativ-hervorbringende Grundzug des Theaters.

In den folgenden drei Kapiteln liegt der Schwerpunkt jedoch gar nicht auf einer hieran anschließenden medialen Analyse – und das ist zugleich die Stärke der Arbeit. Es handelt sich um die erste umfassende Aufarbeitung der vielfältigen Bezüge in den drei späten Theaterarbeiten Schlingensiefs. Sie sind – auch mit Blick auf einen möglichen Einsatz in der Lehre – übersichtlich in Grafiken zusammengefasst. Was beim Besuch der Aufführungen unmöglich ist, nämlich die Quellen der Texte, Filme und Kompositionen im Einzelnen zu erkennen und auch die Kontexte, denen sie entstammen, mit in die Interpretationen einzubeziehen, ist hier auch unter Berücksichtigung von Schlingensiefs Regiebüchern geleistet worden.

Im umfangreichsten, dritten Kapitel analysiert Zorn, wie das in Kirche der Angst dargestellte Ich durch drei Referenzrahmen codiert wird: durch den persönlich-intimen Rahmen zwischen Selbstaufgabe (Akzeptanz des Todes) und -behauptung (Auflehnung gegen den Tod), den künstlerischen Rahmen mit der Präsentation verschiedener Fluxfilms und filmischen Reenactments sowie den religiös-weltanschaulichen Rahmen, dem das katholische Schuldmotiv entnommen ist. Trotz der Abweichungen vom Schema der katholischen Messe, die Zorn erhellend in ein Verhältnis zu anderen Mythemen der Inszenierung setzt, interpretiert sie überraschenderweise, Schlingensief übernehme...

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