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  • Die andere Gegenwart. Zeitliche Interventionen in neueren Generationserzählungen by Anna-Katharina Gisbertz
  • Ana Giménez Calpe
Die andere Gegenwart. Zeitliche Interventionen in neueren Generationserzählungen. Von Anna-Katharina Gisbertz. Heidelberg: Winter, 2018. 270 Seiten. € 42,00 broschiert oder eBook.

Die Darstellungs- und Reflexionsmöglichkeiten über Geschichte, die die sogenannten Generationsromane anbieten, sind der Ausgangspunkt für Anna-Katharina Gisbertz' 2018 erschienene Publikation Die andere Gegenwart. Zeitliche Interventionen in neueren Generationserzählungen. Dafür geht Gisbertz von der Prämisse aus, dass die literarischen Texte, die sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen, ,,fiktive zeitliche Modellierungen" (11) erschließen, die eine alternative Zeitwahrnehmung im aktuellen schnelllebigen und beschleunigten Kontext darstellen.

Die Annäherung der Verfasserin an dieses Thema stützt sich auf die Untersuchung unterschiedlicher Generationsromane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [End Page 173] von Autor*innen wie Marcel Beyer, Jenny Erpenbeck, Eugen Ruge oder Uwe Timm. Gisbertz untersucht die gewählten Werke in sieben Kapiteln, die thematisch strukturiert sind. Nach einem allgemeinen Überblick gehen die folgenden Kapitel auf jeweils ein Thema in Bezug auf Zeit ein. Die Autorin versucht somit einen Überblick über die aktuellen Tendenzen der neueren Generationserzählungen anzubieten, indem sie die sich wiederholenden dominanten Muster der Gattung identifiziert und systematisiert. Die Wiederholung, die Asynchronie oder die nachträgliche Erzählung identifiziert Gisbertz als wichtige rekurrierende Muster in den neueren Generationserzählungen; sie bilden die Ausgangsbasis für die Untersuchung der Romane. Gisbertz' Thesen bieten somit eine neue und produktive Annäherung an die Texte sowohl aus narratologischer als auch aus philosophischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive: Die Autorin untersucht u.a. die Erzählstrategien der Texte und analysiert die Zeitwahrnehmung der Gegenwart. Der Nachteil dieser Organisation ist jedoch, dass einige der literarischen Texte in zwei oder mehreren Kapiteln der Studie untersucht werden, was an einigen Stellen zu unvermeidbaren Wiederholungen und einer gewissen Unklarheit bei der Lektüre führt.

Auf den ersten Seiten der Publikation wird der Forschungsstand zu den Generationserzählungen referiert. Die Verfasserin fasst die repräsentativen Lektüren von Generationsromanen von Theoretiker*innen wie Aleida Assmann, Michael Ostheimer, Marianne Hirsch oder Markus Neuschäfer zusammen. Gisbertz knüpft an diese verbreiteten Theorien, die sich mit der Wahrnehmung des zeitlichen Umbruchs bei den Generationserzählungen beschäftigt haben, an, fokussiert jedoch darauf, wie die Bearbeitung des Vergangenen neue Perspektiven für die Zeitwahrnehmung im Allgemeinen und vor allem der Gegenwart eröffnet. Deswegen schlägt Gisbertz vor, die Generationsromane als literarische Äußerungen dessen, was sie ,,die andere Gegenwart" nennt, zu charakterisieren. Die von ihr untersuchten Texte stellen nach Gisbertz nicht-homogene Zeitordnungen, ,,die eine Dimension des ,Gegen' in der Gegenwart" unterstreichen" (25), dar. Um den Begriff konkret zu definieren, bezieht sie sich auf Ernst Blochs Verständnis der Latenz, mithilfe dessen Gisbertz argumentiert, dass die andere Gegenwart nicht nur eine vorherrschende Zeitlichkeit in Frage stelle, sondern auch ,,gegenwärtige Hoffnungen und Ängste" (25), die latent blieben, zur Sprache bringe.

Ein theoretisches Kapitel über die wichtigsten philosophischen und kulturwissenschaftlichen Ansätze, die den nachfolgenden Untersuchungen der literarischen Werke ihr Fundament geben, findet man in Gisbertz' Studie nicht. Die Erklärungen, die die theoretischen Grundlagen der Analysen darstellen, sind in die jeweiligen Kapitel, die sich auf einen konkreten Aspekt der Generationsromane beziehen, eingebaut. Die poetologische Reflexion in jedem der Kapitel kontextualisiert somit die untersuchte Problematik auf eine direkte und sehr präzise Weise. Was jedoch Gisbertz' Studie nach der Einleitung anbietet, ist ein Kapitel zur Geschichte der Generationserzählung. Die Analyse der Generationsromane von Gustav Freytag, Adalbert Stifter oder Émile Zola veranschaulicht die wichtigsten Tendenzen der Gattung zu ihrer Blütezeit.

Zunächst untersucht die Verfasserin, wie durch Wiederholung traumatische Ereignisse der Vergangenheit ihren Zugang in die Gegenwart finden. Dafür betrachtet sie zwei Romane, W.G. Sebalds Austerlitz (2001) und Peter Handkes Die Wiederholung (1986). Anhand von psychoanalytischen und narratologischen Theorien machen [End Page 174] Gisbertz' Untersuchungen sichtbar, wie vergangene Traumata durch unterschiedliche Strategien erzählbar werden können.

Das Kapitel zu der Strategie, die in der Publikation als ,,ungegenwärtiges Erzählen" bezeichnet wird, ist das originellste der ganzen Untersuchung. Hier geht Gisbertz der Frage nach, wie die Romane, die aus der Perspektive der zweiten oder dritten Generation geschrieben werden, ,,die Wahrnehmung der Geschichte von der...

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