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  • Form und Materie. Schillers verfehlte Moderne by Peter Ensberg
  • Peter Höyng
Form und Materie. Schillers verfehlte Moderne. Von Peter Ensberg. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2018. 272 Seiten. € 39,80.

Bekanntlich ,,kommt man an Kant nicht vorbei", wenn man ,,Schiller verstehen will" (73); doch zukünftig wird es zusätzlich heißen müssen: An Peter Ensbergs Form & Materie kommt man nicht vorbei, wenn man Schillers Anleihen bei und Differenzen zu Kants transzendentaler Philosophie erarbeiten und begreifen will. Denn Ensberg legt mit seiner Monographie nichts Geringeres als ein Grundlagenwerk vor, das einerseits die meisten Schiller-Exeget*innen der vergangenen Dekaden beschämt (siehe Kapitel II), und andererseits die Nebel über dem ,,stellenweise verwegen anmutende[n] Umgang mit zentralen philosophischen Begriffen" (13) durch eine Kombination aus philosophisch-historischen Tiefenkenntnissen und philologischer Genauigkeit lichten hilft. Ensbergs Gründlichkeit zeitigt eine Monographie, die zwar vertraut ist mit den jüngeren literaturwissenschaftlichen Debatten, aber dennoch ohne jede Attitüde eines angesagten und neuesten ,turns' auskommen kann.

In neun Kapiteln und vier Exkursen unternimmt Ensberg das Kunststück, a) Schillers ästhetische Grundsatzabhandlungen vorzustellen, wobei naturgemäß den Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) die größte Bedeutung zufällt, b) genauestens aufzuzeigen, wann und wie sich Schillers Gedankengänge vor allem in der Auseinandersetzung mit Kants Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) entwickelten, c) aber in entscheidenden Punkten hinter Kant zurückfallen, so dass er Schillers Denken letztlich eine ,,verfehlte Moderne" – so der Untertitel – attestiert und [End Page 158] d) dennoch aufzeigt, was den Kern der Weimarer Klassik – trotz aller Differenzen zu Goethe (Kapitel III) – anhaltend modern und relevant hält: ,,Form ist für Goethe und Schiller […] mehr als ein ästhetischer Begriff. Er ist Ausdruck für ein Ganzes und Inbegriff: vor der Kunst ansetzend und über sie hinausgehend, sammelt er das anschaulich Gegebene von Subjekt und Welt in sich, zieht es zusammen, um es auf einen das Wesen von Humanität erfassenden Seinsbestand zu konzentrieren" (59).

Ensberg nennt für das Desiderat einer transparenten Darlegung und Klärung der fälschlicherweise oft synonym verwendeten Oppositionspaare wie Form/Materie, Geist/Materie, Stil/Material oder Form/Inhalt (23) zwei Gründe: Zum einen sei die Schiller-Forschung der irrtümlichen Annahme erlegen, dass zu Schillers theoretischem Denken bereits alles Wichtige gesagt sei (37) und daher der nicht weiter hinterfragte Konsens des ,,Vorrang[s] der Formkultur vor dem Stoff" (P.-A. Alt) (37) gelte, welcher sich dank einer falschen Rezeption der bis auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Form/Stoff-Begrifflichkeit nachweisen lässt (Kapitel I). Denn der Rückgriff auf die Antike und insbesondere Aristoteles zeige vielmehr, dass die strikte Trennung zwischen Form und Materie nicht haltbar, sondern Form immer schon in Materie anwesend sei (32).

Ensberg lässt also die begriffsgeschichtliche Philosophie nicht links liegen, wie er es der neueren Schiller-Philologie nachweist, sondern arbeitet an ihr entlang (Kapitel IV), um anhand von Schillers Kant-Studien aufzuzeigen, wie Schiller den Philosophen produktiv missversteht. Während Kant von der transzendentalen Konstitution der Erfahrung ausgehe, werde für Schiller die Erfahrung von Transzendentalität konstitutiv (84). ,,Das Begriffspaar Form / Stoff beginnt mit Schiller bereits, seine ausdrücklich von Kant geforderte Funktion der Reflexion aufzugeben zugunsten einer flächendeckenden, auch oberflächlichen Herrschaft […]" (21). ,,Form und Materie sind nicht mehr Mittel zum Zweck kritischer Überlegung, sondern Selbstzweck geworden" (21). Schiller gehe nicht wie Kant transzendental-synthetisch vor, sondern arbeite logisch-analytisch (88). Während bei Kant Form und Materie in ihrer transzendentalen Funktion dialektisch aufeinander bezogen bleiben, identifiziere Schiller für Form und Materie ihre je eigene Erfahrung, ,,ohne dass sie sich zueinander verhielten" (89).

Während Ensberg also zunächst Schillers ,,fehlverstandenen Begriff von Transzendentalität" (97) herausarbeitet, zeigt er in den nachfolgenden Kapiteln, wie sich eine solche ,,Konzeption immanenter Verlegenheiten" ,,in alle Gebiete seiner Systematik" erstreckt, ,,auf die Begriffe von Vernunft (Kapitel V) und Natur (Kapitel VI) und […] auf den der Kunst (Kapitel VII)" (89). Die Folge dieser grundsätzlichen Verschiebungen von Kant durch Schiller wird vor allem im siebten Kapitel deutlich, wenn Ensberg darlegt, warum Schiller die Moderne verfehlt, weil ,,die Statik des Sinnlichen […] die Empfindung in ihren Polaritäten so arretiert, dass Zwischentöne, Modulationen, Abstufungen undenkbar werden müssen...

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