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Reviewed by:
  • Europas Werte: Geschichte—Konflikte—Perspektiven by Silvio Vietta
  • Paul Michael Lützeler
Europas Werte: Geschichte—Konflikte—Perspektiven. By Silvio Vietta. Freiburg: Karl Alber, 2019. Pp. 395. Paper €39.00. ISBN 978-3495490761.

In der Literatur- und Kulturwissenschaft gehört Silvio Vietta zu den aktivsten und intelligentesten Beiträgern zum Europa-Diskurs. Seine gut und eingängig geschriebenen Bücher über abendländische Rationalität, europäische Dichtung und Philosophie stehen auf den Lektürelisten von Seminaren, die in den universitären Geistes- und Sozialwissenschaften zum Thema Europa angeboten werden. Die neue Studie zu europäischen Werten ist heute besonders willkommen, weil die Valenz von Kategorien wie "Wahrheit" und "Freiheit" in den letzten Jahren von Populisten aus dem rechtsextremen politischen Spektrum erneut in Frage gestellt worden ist. So kann man das Buch an Schulen und Universitäten nicht genug bekannt machen, und es wäre wünschenswert, wenn es in viele Sprachen übersetzt würde. Es geht um Europas Grundwerte, die nicht selten auch in anderen Teilen der Welt geschätzt werden. Das Buch ist in drei Kapitel unterteilt. Da geht es zum ersten um die europäische Rationalitätskultur, zum zweiten um religiöse Wertentwicklungen und drittens um Patriotismus. Es wird nicht lediglich eine Inventur des Jetztzustandes der Wertewelt vorgenommen, sondern in jedem der drei Bereiche auf die historische Entwicklung der "Wertfamilien" eingegangen, wobei die geistesgeschichtlichen, politischen und sozialen Hintergründe profiliert werden.

Den umfangreichsten Teil nimmt die Wertfamilie der Rationalitätskultur ein. Da werden das eigenständige Denken und Subjektivität, Wahrheitliebe und Kritikfähigkeit, Demokratie und Toleranz, Bildung und Individualität, Rechtssicherheit und Technizität abgehandelt. Anschaulich wird vermittelt, wie sich Werte in bestimmten politischen Defensiv-Situationen im antiken Athen oder Rom und im Frühchristentum herauskristallisierten, um dann im Mittelalter, in der Neuzeit und in der Gegenwart bewahrt, verworfen, abgeschwächt oder neuentdeckt, verteidigt und durchgesetzt zu werden. Wenn Wertdefinitionen und -interpretationen sich auch ändern, bleibt doch oft ein Kern erhalten, der traditionsstiftend wirkt und über Jahrhunderte hin sich zu behaupten vermag. Dabei übersieht der Autor keineswegs fundamentale Krisen, wie sie in der Folge von Revolutionen, Glaubensspaltungen, Kriegen und—seit dem 20. Jahrhundert—durch die Staats-Totalitarismen, die "politischen Religionen" (Eric Voegelin) aufgebrochen sind. Werte müssen ständig neu verhandelt und angeeignet werden: bloße Tradition reicht nicht. Ohne je in einen Predigtton zu verfallen, macht Vietta klar, dass sie im Zuge des sich je neuen Aneignens auch gegen Verführung und Destruktion geschützt werden müssen. Stärker als auf andere Phasen der Neuzeit bezieht Vietta sich auf die Zeit der Aufklärung. Wenn es um die Bestimmung von [End Page 163] Wahrheit, Kritik und Toleranz geht, werden aus der deutschen Geistesgeschichte Lessing und Kant zitiert, so wie bei der Definition von Demokratie auf John Locke und Montesquieu verwiesen wird. Goethe und die Romantiker der Napoleonischen Epoche sind es, die zur Illustration der These von europäischer Individualität und Persönlichkeit zitiert werden. Im Fall von "Bildung" wird die ganze Spannweite der Aktivierung von Bewusstsein, Sinnlichkeit und Emotion bis hin zur Ausbildung in den spezialisierten technischen Berufen skizziert. Das Engagement des Autors in Sachen Rechtssicherheit ist nicht zu übersehen. Hier setzt er bei der Verschriftlichung von überlieferten juristischen Regeln bei Drakon und Solon in Griechenland an, und man folgt ihm gern auf den Wegen, die durch die wirkungsmächtige römische Gesetzgebung bis zu den Pandekten des Kaisers Justian führen. In der Neuzeit wird der Code Civil herausgestellt, wovon der auf St. Helena gefangengehaltene Napoleon wusste, dass mit diesem Dokument sein Ruhm für Jahrhunderte gesichert sei.

Erhellend ist auch das nächste Kapitel über Religion. Die Stunde der Religionskritik schlug im Frankreich der Aufklärung, aber bei Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche sind religiöse Erwartungen ebenfalls als menschliche Projektionen verstanden worden. Heute müsse, so Vietta, die Funktion der Religion in einer bereits säkularisierten Gesellschaft neu diskutiert werden. Er unterscheidet dabei fünf Funktionen, die in der Gegenwart der Religion zugeschrieben werden: Reduktion, Symbol, Integration, Sinnstiftung und Macht. Die religiösen Werte müssten sich im Gesamtkontext der europäischen Wertorientierungen behaupten und hätten ihre frühere Ausschließlichkeit verloren. Als unaufgebbar hätten sich die...

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