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  • Zukunftsvisionen. von christlichen, grünen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen by Manfred Windfuhr
  • Wolfgang Lueckel
Zukunftsvisionen. von christlichen, grünen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen. Von Manfred Windfuhr. Bielefeld: Aisthesis, 2018. 883 Seiten. €39,80.

Der prognostische, seherische Blick in utopischer und dystopischer erzählender Literatur aus fünf Jahrzehnten deutschsprachigen Schaffens steht im Zentrum dieser [End Page 648] gigantischen Studie. Die Von Windfuhr gewählte zeitliche Spanne Von 1939 bis 1989 ist relevant auf mindestens zwei Ebenen. Zunächst manifestieren sich die prägendsten und einschneidensten Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte in diesen fü Jahrzehnten. Es ist zudem auch die Ära, in der massive technologische Fortschritte zu verzeichnen sind die letztlich zum Gegenstand der literarischen Visionen selbst werden, allen voran die Bedrohung durch nukleare Auslöschung.

Die fast 900 Seiten an Ausführungen bieten detaillierte Analysen Von etwa 80 längeren erzählerischen Texten, zumeist Romanen, flankiert Von fast ebenso vielen Narrativen, die weiteres Material bieten, aber nicht so detailliert in der Einzeldiskussion hervortreten. Windfuhrs Werk ist einer eher traditionellen germanistischen Herangehensweise verpflichtet. Das ist durchaus im besten Sinne zu verstehen: Man spürt, dass der Autor, der die Herausgabe der Düsseldorfer Heine-Ausgabe bewältigt hat, ein tiefes Interesse an weitreichenden Überblickswerken hat. Diese editorisch verortete Fähigkeit zur Gesamtschau ist durchaus bemerkenswert und zunehmend rarer—man denke in diesem Zusammenhang nur an das Scheitern des Deutschen Klassiker Verlages.

Das Buch trägt Texte aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusammen, darunter auch wichtige Schweizer und österreichische Stimmen wie Friedrich Dü renmatt und Marlen Haushofer. Windfuhrs Auswahl überzeugt mit einer ausgewogenen Mélange aus hoher, mittlerer und eher unterhaltender Literatur. Diese Herangehensweise ist nicht nur authentischer, da sie einen begrenzenden Kanon ablehnt, sondern auch notwendig: Im Rahmen kanonischer deutscher Literatur ersten Ranges gibt es nicht genügend Werke, um einen solchen Band zu füllen. Literarische Schwergewichte wie Hermann Hesse (Das Glasperlenspiel), Franz Werfel (Stern der Ungeborenen), Hermann Kasack (Die Stadt hinter dem Strom), Ernst Jünger (Auf den Marmorklippen und Eumeswil) und Christa Wolf (Kassandra, Störfall und andere Texte) stehen neben dem Provinzschriftsteller Oskar Maria Graf (Die Erben des Untergangs) und dem Politthriller-Autor Hans Hellmut Kirst (Keiner kommt daVon). DDR-Autoren wie Erwin Strittmatter und Ulrich Plenzdorf finden sich hier neben Außenseitern und Exoten wie Ernst Kreuder und Arno Schmidt sowie auch neben wichtigen Gegenwartsautor*innen wie Michael Kleeberg und Brigitte Kronauer. Mag auch die Auswahl der literarischen Stimmen etwas kunterbunt anmuten, so ist das letztlich der Vielfalt des Themas geschuldet, das sich bei vielen der genannten Autor*innen unterschwellig durch ihr Schaffen zieht und nicht unbedingt in den Hauptwerken anzutreffen ist. Ein gutes Beispiel dafür ist Günter Grass' Von der Kritik verrissener Roman Die Rättin: Das Abseitige, Abwegige kommt oft in zweit- und vielleicht auch drittklassiger Literatur zutage und geriert sich als weitreichenderes kulturelles Phänomen. Insofern ist Windfuhrs Breite hier wichtig und richtig. Ein Autor, den man vielleicht in diesem Rahmen vermisst, ist W. G. Sebald, dessen Mischung aus Naturzerfall und Geschichtsverfall in Die Ringe des Saturn hier einen guten Platz gefunden hätte, wenn er auch ein wenig außerhalb des Von Windfuhr gesteckten zeitlichen Rahmens liegt. Im Genre der 1980er Unterhaltungsdystopien hätten etwa Matthias Horx' absurd-futuristische Romane oder Gerhard Zwerenz' satirische Nuklearapokalypse Der Bunker die dystopischen Texte ergänzt. Windfuhr kann aus Platzgründen nicht allen bedeutsamen Autor*innen genügend Raum einrä men, aber er reichert den Anmerkungsteil um viele weitere wichtige Texte an, wie [End Page 649] zum Beispiel den Roman-Erstling Kruso Von Lutz Seiler (dessen Erzählung ,,Turksib" im Kapitel über Katastrophenliteratur ebenfalls Fußnotenpotenzial gehabt hätte).

Methodologisch betrachtet Windfuhr Paradiese und Apokalypsen als zwei Kehrseiten einer Medaille. Diese Herangehensweise ist durchaus logisch, aber zugleich etwas unerwartet, da sie das Potenzial birgt, den Rahmen einer solchen Studie zu sprengen. Der Autor teilt seinen literarischen Korpus in vier Forschungsrubriken oder ,,Spielarten des prognostischen Romans" ein: christliche, ,,grüne", ,,rote" Utopien und Katastrophenliteratur. Religiös verortete Schicksalsutopien treten hier neben Utopien im Spannungsfeld Von Natur(betrachtung) und Technologie (nicht etwa mit der jüngsten Ökoliteratur zu verwechseln), ergänzt Von marxistisch-sozialistischen Utopien und denjenigen Fantasien, die dem katastrophalen...

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