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Reviewed by:
  • Goethes Faust I: Reflexion der tragischen Form by David E. Wellbery
  • Carsten Strathausen
David E. Wellbery. Goethes Faust I: Reflexion der tragischen Form. Munich: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2016. 102 pp.

Der brilliante Ideenreichtum dieses unscheinbaren, aber tiefgründigen Buches von David Wellbery kann in einer kurzen Besprechung wie dieser nur ungenügend wiedergegeben werden. Ich beschränke mich deshalb im folgenden auf die Darstellung einiger zentraler Gedanken textkritischer als auch disziplinärmethodologischer Natur. Die beste Auskunft hingeben gibt das Buch selber. Die Lektüre lohnt sich.

Bereits auf der ersten Seite wird die Prämisse der Studie deutlich formuliert: "Vorausgesetzt wird ein genetisch-dynamisch konzipierter Gattungsbegriff," schreibt Wellbery, denn "Gattungstheorie ist nicht Gestaltenlehre, sondern Verwandlungslehre." Damit ist in der Tat der methodologische Rahmen abgesteckt und das Ziel der Untersuchung formuliert: es geht nicht allein um eine Interpretation von Faust I, sondern um den weitaus anspruchsvolleren und textübergreifenden Versuch, mittels des Goetheschen Textes die historischen Erscheinungsformen der Tragödie insgesamt und ihr Bedeutungspotential als lite rarische Gattung zu bestimmen. Die Kernfrage lautet nicht: Warum ist Faust I eine Trägodie? sondern: Wie und mit welchen Mitteln musste Goethe die traditionelle Gestalt der Tragödie verändern, um Faust I als Tragödie schreiben zu [End Page 320] können? Die erste Frage setzt einen statischen, die zweite hingegen einen dynamisch-adaptiven Gattungsbegriff voraus, und nur dieser, nicht jener, ermöglicht es der Literaturwissenschaft, das wandelbare Sinn- und Bedeutungspotential lite rarischer Texte und Formen epochenübergreifend zu erfassen und zu be werten.

Wellberys Prämisse eines historisch wandelbaren, also evolutionären, Gattungsbegriffs der Tragödie erlaubt ihm eine Fülle neuer, intertextueller Bezüge zwischen Faust I und anderen Werken der Weltliteratur aufzuweisen, die bisher in der Forschungsliteratur nicht oder nur ungenügend berücksichtigt wurden. So stellt er gleich zu Beginn die These auf, daß Goethe sich direkt von Sophokles' Oedipus Tyrannus leiten und inspirieren ließ, um seine eigene Tragödie in Szene zu setzen. Der detaillierte Vergleich der Szene "Vor dem Tor"—laut Wellbery die "Eröffnungszene" von Faust I, weil Mephisto hier zum ersten mal auftaucht und die tragische Handlung (samt Wette und Gretchentragödie) erst hier ihren Anfang findet—und der Eingangszene von Sophokles' Drama bringt nicht nur eine Reihe formaler und inhaltlicher Parallelen beider Dramen zum Vorschein (Ort der Handlung, Szenenaufbau, Dialogstruktur, etc). Weitaus wichtiger für Wellbery ist die spezifische Art und Weise, wie Goethe die antike Vorlage verändert, um die archaisch-tragische Form des Dramas "an die neuzeitlichen semantischen Voraussetzungen (Christentum, Wissenschaft, Psychologie)" anzupassen. Ein zentraler Aspekt dabei ist die komplexe Zeitstruktur der Tragödie und die frevelhafte Selbstüberhebung des tragischen Helden. Wellbery zeigt wortgetreu nach, wie Goethe "die mythische Zeit- und Schicksalsverschlingung" von Sophokles' Drama "in das Innere einer Individualbiographie" verlegt. Denn nur so kann das Individuum Faust, als Stellvertreter des modernen Menschen, die Nachfolge des tragischen Helden der Antike antreten. "Die Tragödie wird zur Subjektgeschichte"—mit dieser griffigen Formulierung faßt Wellbery die strukturbildende Innovationen Goethes zusammen.

Diese Subjektivierung des Handlungsverlaufs in Faust I geht einher mit einer anderen strukturellen Veränderung der antiken Form der Tragödie. Goethe verla gert nämlich das ästhetische Bewußtsein des Zuschauers, der das dramatische Geschehen von außen betrachtend reflektiert, in das Innere des Stücks selbst. Im Gegensatz zum klassischen Helden ist sich Faust "der Tragik seines eigenen Tuns bewußt" und wird damit selbst zum kritischen Betrachter seines eigenen Handelns. Um die Tragweite dieser Innovation zu verdeutlichen, erinnert uns Wellbery an die Bedeutung der Aristotelischen Kernbegriffe éleos and phobos. Anders als (seit Lessings Hamburger Dramaturgie) allgemein üblich, übersetzt Wellbery éleos and phobos nicht als Furcht und Mitleid, sondern als Jammer und Schrecken. Der Unterschied zwischen den zwei Begiffspaaren liegt begründet in der kritisch-reflektiven Distanz des Zusachauers zum Geschehen auf der Bühne. Jammer und Schrecken bezeichnen menschliche Grundaffekte, die nicht direkt Gegenstand der Reflexion werden können, weil sie dieser vorläufig und kognitiv nicht einholbar sind, wohingegen Furcht und Mitleid als "aufklärerisch-philanthropische" Reflexionsbegriffe eine kognitive Dimension mit einschließen. Lessing zufolge soll eben der Zuschauer des tragischen Spiels nicht nur jammern und schaudern, sondern sich auch darüber Gedanken machen...

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