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Reviewed by:
  • Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis by Julia Wehren
  • Katja Schneider (bio)
Julia Wehren: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis. Bielefeld: transcript Verlag 2016, 274 Seiten.

Als 2011 „Tanzfonds Erbe“ in Deutschland und 2012 die Schweizerische Fördereinrichtung „Kulturerbe Tanz“ Projekte unterstützten, die sich künstlerisch mit der Geschichte der eigenen Kunst auseinandersetzten, reagierten diese Initiativen zum einen auf eine manifeste Strömung im zeitgenössischen Tanz, zum anderen griffen sie regulierend in diese Szene ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich über Jahre bereits ein internationaler Diskurs konstituiert: Hier interferierten choreografische Zugriffe etwa von Martin Nachbar, Le Quatuor Albrecht Knust oder Jérôme Bel, theoretische Konturierungen von Archiv und Repertoire (zum Beispiel Taylor 2003), Reenactment oder Tanz als Wissenskultur (Brandstetter 2007; Huschka 2009) sowie kulturpolitische Regulierungsmaßnahmen wie etwa das UNESCO-Übereinkommen zum Erhalt immateriellen Kulturerbes (2003). Zu diesem Kontext gehörten zahlreiche Tagungen, Veranstaltungsreihen und Publikationen; auch Julia Wehren widmete sich bereits 2010 dem Thema getanzter Tanzgeschichte und gab zusammen mit Christina Thurner den Band „Original und Revival“ heraus, der auf einer Tagung 2008 am Berner Institut für Theaterwissenschaft beruhte.

Den Untertitel ihres damaligen Beitrags („Choreografie als kritische Reflexion von Tanzgeschichte“) greift Julia Wehren in ihrem aktuellen Untertitel („Choreografie als historiographische [End Page 211] Praxis“) wieder auf. In der Publikation „Körper als Archiv in Bewegung“, die auf ihrer 2014 an der Universität Bern angenommenen Promotionsschrift basiert, werden unterschiedliche Aspekte dieses Diskurses zusammengeführt und unter historiografischer Perspektive konstelliert. Ziel ist es, Choreografie als historiografische Praxis und den Körper als Archiv in Bewegung zu konzipieren, sowie, so die These, auf produktive Weise Theorie und Praxis zu verschränken, um „die Möglichkeiten der historischen Recherche, Selektion und Interpretation gleichermaßen neu zu denken, wie die Artikulation und Präsentation tanzhistorischer Erkenntnisse im Rahmen einer Aufführungssituation“ (S. 26).

Sechs markante und für die vergangenen rund 25 Jahre kanonisch gewordene künstlerische Positionen bilden die zum Teil eingehender behandelten, zum Teil skizzierten Untersuchungsgegenstände und ästhetischen Fluchtpunkte von Wehrens in vier eingängig, aber nicht ausreichend spezifisch überschriebene Kapitel („Umbrüche“, „Dispositive“, „Körper“, „Geschichte(n)“) gegliederte Publikation: Zu den Arbeiten von Le Quatuor Albrecht Knust (1994–96), Jérôme Bels „Véronique Doisneau“ (2004), Olga de Sotos Oral-History-Projekt „histoire(s)“ (2004), Foofwa d’Imobilités und Thomas Lebruns „Mimésix“ (2005) sowie Janez Jansas „Fake it!“ (2007) gesellt sich als jüngstes Projekt „Flip Book“ (2008/09) von Boris Charmatz. Diesen Positionen werden Lektüren theoretischer Ansätze an die Seite gestellt, in denen Julia Wehren wichtige Kategorien, wie „Flüchtigkeit“, „Dokument“, „Archiv“, „Spur“, „Reenactment“, „Narration“, konturiert und diskutiert.

Dabei akzentuiert sie eine entscheidende paradigmatische Verschiebung, die in ihrer Perspektive die Entwicklungen seit den frühen 1990er Jahren bündelt: „ein radikales Neudenken und eine Abkehr von dem Paradigma der Flüchtigkeit“ (S. 109), das lange konstitutiv für das Konzept von Tanz in der Tanzwissenschaft gewesen ist. An seine Stelle rückte ein archivalischer Impuls, der sich erstens körperlich äußert in Praktiken des Trainings, Einstudierens, Aufführens, zweitens am Gestus des reflexiven Zugriffs auf tanzgeschichtliche Ereignisse, drittens in der biographisch informierten Perspektive auf die Auseinandersetzung mit Quellen oder viertes gerade im Gegenteil in der distanzierten Professionalität vielgestaltiger professioneller Tänzer, die lustvoll in den eigenen Archiven nach Spuren suchen. Dabei zu konstatieren ist „immer auch eine Artikulation von Wissen, welches sich als dynamisch, kontingent, körperlich und implizit, aber ebenso auch explizit und diskursiv, artikulierbar und vermittelbar präsentiert.“ (S. 190).

Wehren entfaltet in der Verschränkung von Beschreibung des künstlerischen Beispiels und theoretischer Relektüre noch einmal eine Zusammenschau brisanter Themenfelder. Die einschlägigen Begriffe und Konzepte, die sie referiert, konturiert sie für ihr Thema: So setzt sie dem „Reenactment“ als Bezeichnung beispielsweise „historiografische Praktiken in der Choreografie“(S. 94) entgegen. Diese speisen sich aus Erinne-rungs- und Wahrnehmungsweisen des Körpers, aus seiner Fähigkeit zu lernen und Wissen zu aktualisieren und aus dem Umstand, dass der Körper immer schon kulturell imprägniert ist und dadurch zugänglich für Dritte, das Publikum, wird.

Julia Wehrens Studie zielt darauf, das identifizierte...

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