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Reviewed by:
  • Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung by Eva Holling
  • Julia Wehren (bio)
Eva Holling. Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung. Berlin: Neofelis Verlag 2016, 350 Seiten.

Theater zwischen Liebe und Ideologiekompetenz

Übertragung geht aus der Begegnung zweier Subjekte hervor, genauer noch: Sie bestimmt ebendiese Zusammenkunft immer schon im Vornherein. Diese grundlegende Annahme aus der Psychoanalyse überträgt Eva Holling auf das Theater. Wenn Zuschauende auf eine Theater-situation treffen, ist dies in der Anlage nichts anderes als ein „intersubjektiver Rapport“, so die Gießener Theaterwissenschaftlerin. Er entfaltet seine Wirkung im Prozess und trägt wesentlich zur Subjektkonstitution und damit Identitätsbildung des Einzelnen bei. Theater als sozialer Katalysator also, als eine ästhetische Erfahrung, die im Zuschauenden eine zunächst imaginäre und dann symbolische Formierung eines Ich-ideals vornimmt. Die Struktur der Subjektbil-dung, die dabei wirksam ist, ist derjenigen der Liebe nicht unähnlich, wie Holling anhand von Lacans Begriff des Begehrens ausführt. Der Prozess der Übertragung ermöglicht hier „das Sehen von etwas Wertvollem in jemand anderem“ (S. 122) und adelt so das Theater als der Liebe zumindest strukturell verwandt.

Wie erhellt das hier vorgestellte Modell einer psychoanalytischen Gesprächssituation das Spannungsverhältnis von Publikum und Bühne? Welcher Erkenntnisgewinn ergibt sich mit dem Übertragungsbegriff für das Theater? Eva Holling beschreibt Theater als Vorgand, der dem Begehren der Subjekte Raum bietet und über komplexe Austauschprozesse der Innen- und Außenwahrnehmung (das Lacansche Spiegelstadium findet hier Anwendung) ein reflektiertes Ich hervorbringt. Sie unterscheidet dabei zwischen einer instrumentellen und einer experimentellen Ausprägung, die beide auf ihre Wirkungsmuster hin untersucht werden können.

Über drei zentrale Kapitel arbeitet sie das Begehren (die agalma), die Machtkonstellation (das sujet-supposé-savoir) und die Übertragung (die maîtrises théâtrales) als Grundsituationen theatraler Modelle mit Lacans Begriffsvokabular heraus, welches sie immer wieder schärft, um andere Lektüren erweitert, auf den Gegenstand des Theaters zuspitzt und schließlich anschaulich an Beispielen vorführt.

Zur Erläuterung des instrumentellen Modells zieht die Autorin die weinenden Gesichter der Ausstellungsbesucher*innen in Marina Abramovićs The Artist is present bei. Sie deutet sie als reüssierte Übertragungsprozesse von gezielt gesteuerten Affekten auf Ebene der Produktion, mit Abramović als einem sogenannten sujetsupposé-savoir, einem „Subjekt, dem unterstellt wird, wissend zu sein“, wie Holling Lacans Grundbegriff übersetzt. Der Status der Performancekünstlerin und die institutionelle Rahmung verunmöglichen eine Situation auf Augenhöhe [End Page 208] derart, dass das Sehnen nach dem Anderen unweigerlich zu einem Sich-Ausliefern der Zuschauenden führt. Diese Konzeption eines wissendenden Subjekts beruht sowohl auf Fiktion (auf imaginierten, aber doch wirkungsmächtigen Anteilen im zwischenmenschlichen Rapport), wie auf der zugewiesenen Funktion als dem „Platz, auf den das Gegenüber jeweils versetzt wird [. . .]“ (S. 186), wie Holling schreibt. Sie führt weiter zu der Frage, inwiefern die Zuschauenden durch diese fiktiven und funktionalen Bedingungen im Setting von Abramović von einem Subjekt in die Position eines Objekts gedrängt werden können.

Für diese Diskussion um symbolische Macht zieht Holling auch Pierre Bourdieus Pouvoir symbolique und Jacques Rancières Maîtres igno-rants bei. Dem Subjekt wird darin unter anderem die „Möglichkeiten zur praktizierten Äquivalenz“ (S. 198) zugeschrieben, das Potential also, der Anfälligkeit für Autorität, welche die Intersubjektivität in sich birgt und die Holling in dem Abramović-Beispiel sieht, gerade zu widerstehen.

Einem derart instrumentalisierenden Setting stellt Holling das Beispiel Amt für Umbruchsbewältigung entgegen, 2012 als Teil der Ausstel-lung Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen in Frankfurt am Main vorgestellt. Es betreibt ein fiktives Amt nach Büroschluss des tatsächlichen Presse- und Informationsamtes und bietet rund 40 Expert*innen aus unterschiedlichsten Themenfeldern für Zweiergespräche an. Wie The Artist is present offeriert es eine Art Audienz-Situation mit einer wissenden und einer zuschauenden Person, jedoch ist die grund-legend asymmetrische Begegnung nun vielfach verschoben, indem die Künstler*innen eine ihnen fremde Institution bevölkern, die Zuschauenden ohne Publikum agieren und die gesamte Situation einer offensichtlichen Fiktion unterstellt ist. Holling wertet dieses Setting als experimentell und überträgt den Ansatz wiederum auf das Lacansche sujet-supposé-savoir, wobei der Einsatz von Wissen und der Umgang mit der...

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