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Reviewed by:
  • Denkverläufe im Vergleich. Goethe und Kleist, Kafka und Brecht by Falk Strehlow
  • Helga W. Kraft
Falk Strehlow, Denkverläufe im Vergleich. Goethe und Kleist, Kafk a und Brecht. Würzburg: Königshauses & Neumann, 2016. 688 S.

Strehlows fast 700seitige Studie vergleicht zum einen Denkabläufe in Texten von Goethe und Kleist—Schriftsteller des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts—und zum anderen in Werken von Kafka und Brecht— [End Page 93] Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Verläufe des Denkens ermittelt er durch vergleichendes Lesen. Er bedient sich methodologischer Begriffe wie z.B. textnahes Lesen, Modell-Leser, Fokus-Varianz. Zum Verständnis erstellt Strehlow zunächst vier Beispielanalysen von Kleist und Kafka. Der Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Interesses liegt in den unterschiedlichen Arten des Strukturaufbaus von gedanklichen Zusammenhängen literarischer Werke. Themen, Motive und Inhalte werden ausgeklammert, denn es geht ihm um ein Abbild quasi-syntaktischer Strukturen von Literatur. Auf diese Weise sollen die Tiefenstrukturen literarischer Texte ausgelotet werden. Roman Jacobsens strukturbasierte Textauffassung ist u.a. in Strehlows Verlaufsmodell integriert. Sein Forschungsansatz lässt eine unterschiedliche Geometrie literarischer Sinnzusammenhänge erkennen, d.h. er ermöglicht eine Visualisierung von Mustern bzw. Bildern. Dazu dient das vergleichende Lesen, bei dem literarische Texte wie zwei Folien übereinandergelegt werden, um deren Abweichungen sichtbar zu machen. Textnahes Lesen sodann soll Kontraste zum Vorschein bringen.

Strehlow findet so bei Goethe den Menschen als eine maßvolle, verhältnismäßige Gestalt, der seinen Bezug zur Welt erkennen kann. Die Studie konfrontiert dieses Resultat mit den Figuren bei Kleist, wo es um Verkennen und Aporien geht. Während sich Kafka auf eigene Weise Kleist anschließt, wird bei Brecht der Mensch sodann als Kollektiv-und Gattungswesen dargestellt. Strehlow geht davon aus, dass sich durch die Kleistschen Verlaufsmodelle "Goethes Textkohärenzen trennscharf und signifikant konturiert" (105) herausarbeiten lassen. Er untersucht im ersten Teil des Buches mehr als notwendig gewesen wäre, das gesamte dramatische Frühwerk Goethes (Die Laune des Verliebten, Götz von Berlichingen und Prometheus, Götter, Helden und Wieland, Claudine von Villa Bella und Clavigo.) Nach einer ausführlichen strukturellen Analyse vergleicht Strehlow Die Laune der Verliebten mit Kleists Die Familie Schroffenstein. Bei Goethe sieht er die Welt im Drama durch Austausch und Verstehensmöglichkeiten liebes-und lebensfähig, während sich bei Kleist im Rahmen der inneren und äußeren Welten durch die "Übermacht einer omnipotenten Schuldzuweisung Austausch und Verstehensmöglichkeiten notwendig ausschließen" (164–65). Es ist etwas verwirrend für LeserInnen, dass Strehlow hier in dieser Goethe-Analyse nicht nur auf Kleists Denkverläufe sondern auch auf Brechts eingeht, wo er stattdistinkten Grundstrukturen eine Dialektik findet. Bei Goethe, so wird ausgeführt, fehle der Widerspruch, der zu einer Dialektik notwendig sei. [End Page 94] Ansonsten zieht Strehlow nur bei Clavigo nochmals Kleist hinzu. Hier weist er darauf hin, dass es in keinem anderen behandelten Drama deutlichere Textäquivalenzen zwischen Goethe und Kleist gäbe als bei Clavigo und Penthesilea. Der Unterschied liege darin, dass die Protagonistin Marie bei Goethe "die Waffen für ihren psychosomatischen Freitod nicht selbst schmieden" (392) muss, wie es Penthesilea tut.

Erst im letzten Drittels des Buches verlagert sich der Fokus von Goethe auf Kafka und Brecht, denen gerade mal je ein Fünftel der Studie gewidmet ist. Eigentlich wäre dies eine separate Studie. Zum Beispiel wird nur für diesen Teil eine immerhin sechs Seiten lange tabellarische Gegenüberstellung texttypischer Merkmale bei Kafka und Brecht erstellt, die er "Stichpunkte gegenseitiger Abgrenzung" (671) nennt. Diese Gegenüberstellung gibt es für Goethe und Kleist nicht. Somit fällt an dieser Veröffentlichung eine gewisse Ungleichwichtigkeit auf, die für LeserInnen problematisch sein könnte.

In Sektion 2 des Buches werden die Argumentationsverläufe in Kafkas Proceß verfolgt, ohne dass irgendwelche Lesevergleiche vorgenommen werden. Es wird hier ein Denken in Gegensätzen und Widersprüchen erkannt und das antonyme Denken als innere Logik der Sinneszusammenhänge gesehen. Als kryptisch erscheinende Arbeitshypothese gilt diese Aussage: "Gegensätze ziehen sich an, vermischen sich und generieren einen Zustand der absoluten Stabilität." (434) Es wird von einer Thematisierung des Verhältnisses zwischen "Mensch" und "Schuld" ausgegangen, einer persönlichen Schuld und der Schuld...

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