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  • Singularia – eine fast vergessene Gattung der juristischen Literatur
  • Thomas Woelki

Im Jahre 1390 wurde der damals wohl berühmteste Jurist Italiens Baldo degli Ubaldi für ein märchenhaftes Gehalt an die Universität Pavia geholt. In dieser Zeit spielt eine denkwürdige Episode, geschildert von Paolo da Castro, der damals als Schüler im Publikum saß.1

Casus est hic singularis. Ego [= Paolo da Castro] vidi de isto textu fieri verecundiam cuidam doctori vocato dominus Phil(ippus) de Aregio [= Filippo Cassoli] et legerat hic. Postea venit Papiam, ubi primo legerat, et fuerat doctor omnium illorum doctorum. Unde fecit quodlibetum super rubrica de testamentis asserens velle respondere de quolibet in materia ultimarum voluntatum. Baldus interrogavit eum, ubi habemus, quod [End Page 225] substitutio vulga(ris) facta in legato non comprehendat nisi casum, quo noluerit vel potuerit. Breviter obmutuit. Et Baldus aperuit librum et legit istum textum, unde resultavit illa maxima confusio.

Geschildert wird hier offenbar die Situation einer öffentlichen 'Disputatio' des 1391 verstorbenen Legisten Filippo Cassoli.2 Dieser erhob für sich den Anspruch, alle denkbaren Problemstellungen rund um das Testament diskutieren zu wollen. Das passt gut auf die Entwicklung der Gattung 'Disputatio', die in dieser Zeit nicht mehr nur die eng gefasste 'Quaestio' bearbeitete, sondern gern alle möglichen Konstellationen durchspielte.3 Baldus ergreift das Wort und lanciert hier eine Problemfrage über unerfüllbare Bedingungen im Testament, die gemeinerweise einen 'casus singularis' betrifft, also einen Rechtssatz, der sich nur aus einer Stelle des Corpus iuris ableiten lässt. Peinlicherweise hatte der alte Cassoli die Stelle aber gerade nicht parat und war blamiert. Baldus konnte sich durch seine öffentliche Wortmeldung vor der Universitätsöffentlichkeit in Szene setzen und damit einen glänzenden Einstand an der neuen Universität feiern. Eben weil solche Singulärstellen schwer zu finden waren, wurde es zu Beginn des 14. Jahrhunderts üblich, diese Stellen einzeln zu sammeln und in umfangreichen Kompilationen zusammenzufügen; eine eigene Textsorte entstand, die Singularia iuris.

Diesen Titel tragen ab dem 14. Jahrhundert zahlreiche juristische, vor allem legistische Werke. Es handelt sich meist um kurze, am konkreten Fall orientierte Erläuterungen einer wenig bekannten und dennoch bemerkenswerten Text- oder Glossenstelle. Namensgebendes Kriterium ist die Einzigartigkeit: Die Lösung eines wichtigen praktischen Problems hängt an einer einzigen Gesetzes- oder Kommentarstelle. Wer sie übersieht, ist verloren. [End Page 226] Das aus heutiger Sicht Bemerkenswerte an den so bezeichneten Texten ist ihr Erfolg. Gerade im 15. Jahrhundert erfreute sich der Texttyp Singularia insgesamt einer immensen Beliebtheit, wie zahlreiche Handschriften und Drucke bezeugen, welche in den Jahrzehnten um 1500 den juristischen Büchermarkt fluteten. Zufällige Namensgleichheit oder tatsächlich ein eigenes Genre der juristischen Literatur?

Den Zeitgenossen jedenfalls erschienen die Konvergenzen innerhalb der Texte ausreichend, um eine gemeinsame Zusammenstellung zu rechtfertigen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die Singularia einzelner Autoren immer wieder zu großen Sammlungen zusammengebunden und oft mit Kommentaren versehen. Die Autoren zitierten die Singularia vorangegangener Generationen und stellten sich bewusst in eine Tradition. Von einer eigenen Gattung wird man freilich erst sprechen können, wenn es gelingt, texttypische Konventionen zu finden, welche eine Abgrenzung zu anderen Textsorten ermöglichen. Es wird darauf ankommen, Gemeinsamkeiten der Singularia-Sammlungen in Aufbau, Darstellungsabsicht und Argumentationstechnik herauszuarbeiten. Hierfür sind zunächst einige Entwicklungslinien zu skizzieren und anschließend der Quellenwert dieser Texte für die historische und rechtshistorische Forschung zu umreißen. Die Darstellung kann freilich nur einen vorläufigen und unvollständigen Überblick liefern. Eine systematische Untersuchung fehlt bislang.

Die historische und rechtshistorische Forschung hat sich mit diesen Texten nur vereinzelt und am Rande beschäftigt. Die großen Handbücher der juristischen Literaturgeschichte gehen praktisch nicht auf sie ein.4 Lediglich in den beiden großen Über-blickswerken [End Page 227] des 19. Jahrhunderts über die 'populäre' juristische Literatur, bei Roderich Stintzing (1867) und Emil Seckel (1898), fanden die Singularia ausführlichere Berücksichtigung.5 Im Zentrum stand hier jedoch der um 1450 entstandene und bis weit ins 17. Jahrhundert sehr erfolgreiche Vocabularius utriusque iuris des Magister Jodocus aus Erfurt, ein juristisches Lexikon für Studienanfänger und für den Alltagsgebrauch. Der Verfasser des Vocabularius übernahm einige Artikel ganz oder teilweise aus den weit verbreiteten Singularia des jung...

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