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Reviewed by:
  • Schwellenräume–Schwellenzeiten in den Werken von Irène Némirovsky, Leo Perutz und Bruno Schultz ed. by Paula Wojcik and Elisabeth Johanna Koehn
  • Roswitha Rust Cesaratto
Paula Wojcik und Elisabeth Johanna Koehn, Hrsg., Schwellenräume–Schwellenzeiten in den Werken von Irène Némirovsky, Leo Perutz und Bruno Schultz. Jenaer Germanistische Forschungen 39. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2016. 164 S.

Die Beiträge in diesem von Paula Wojcik und Elisabeth Johanna Koehn herausgegebenen Band kreisen alle um den Begriffder Schwelle: Ein verändertes Raum- und Zeitempfinden um 1900, ausgelöst durch politische, ideologische und philosophisch-ästhetische Veränderungen. Der Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer Tagung zum Thema, und kann daher als verdichteter Tagungsbericht zu einem augenscheinlich isolierten Begriffgesehen werden, der sich besonders auf die drei Autor/innen Némirovsky, Perutz und Schulz anwenden lässt. Diese stehen denn auch im Zentrum der stark literaturgeschichtlich fokusierten Beiträge.

Jedoch ist es den Herausgeberinnen des Bandes ganz offensichtlich ein [End Page 138] Anliegen, auf die viel weitreichendere Tragweite der Schwellenmetapher hinzuweisen. Diese geht über die individuell erzählstrategischen Merkmale und biographischen Erfahrungen der ausgewählten Autoren hinaus und verkörpert einen Zeitgeist wie kaum eine andere Metapher. Die Schwellenzeit um 1900, so die Herausgeberinnen, konstituiert eine Phase des Übergangs, der Ungewissheit und Offenheit, des Transitorischen. Für die drei besprochenen Autor/innen Némirovsky, Perutz und Schulz ist der Begriffsowohl hinsichtlich des Werkes als auch des Lebens ein passender; durch ihr Jüdischsein automatisch in Schwellenexistenzen gedrängt, erleben sie ihre Zeit als teilnehmende Beobachter. Aber die Schwellenmetapher ist, so lautet das Fazit der Herausgeberinnen, mehr als nur ein “Teilphänomen einer Poetik des Transitorischen” (10), vielmehr mutiert sie zur “universalen Zeitdiagnose” (11), die autonome Züge annimmt. Die Schwelle als Repräsentant eines Krisenbewusstseins (13) hat also eine übergeordnete (und verbindende) historische Relevanz, die an den drei Beispielen Némirovsky, Perutz und Schulz exemplarisch aufgezeigt wird.

Mit Hilfe der Schwelle lassen sich nicht nur isolierte, literarische Phänomene miteinander verknüpfen, sondern sie ermöglicht es auch, diese literarischen Erscheinungen in den zeitgenössichen politischen und ideologischen Kontext einzubetten. Dass der Band aus einer Tagung zum Thema hervorgeht, erklärt auch den starken Fokus auf zwei theoretische Modelle zum Schwellenbegriff, hier spezifisch Michel Foucaults Begriffe der Heterotopie und Heterochronie und Mikhail Bahktins Chronotopos (Walter Benjamin und Nicholas Saul beispielsweise finden hauptsächlich in der Einleitung Erwähnung). Die ersteren beiden Begriffe sind als Gegenort und alternatives Zeitempfinden zu (normativen) Gesellschaftsstrukturen konzipiert, wohingegen Bahktins Chronotopos die Interdependenz von Zeit und Raum betont. “Räume” und “Zeiten” können bei Némirovsky, Perutz und Schulz sehr variable Gestalt annehmen: Rausch und Traum, das Theater und der Übergang zur Wirklichkeit werden ebenso analysiert wie Identitäten an der (historischen, genderspezifischen) Schwelle, und nicht zuletzt spielt das Schwellenhafte eine Rolle bei der Untersuchung der sehr unterschiedlichen Erzählstrategien der drei Autor/innen.

Zwei Aspekte dieses Sammelbandes stellen seinen Hauptbeitrag zur Literaturwissenschaft dar. Das ist zum einen eine genaue und detailbewusste Untersuchung verschiedener erzähltechnischer Elemente bei Némirovsky, Perutz und Schulz. Der/Die Leser/in findet in diesen Aufsätzen Analysen [End Page 139] der Funktion von unterschiedlichen Raum/Zeit-Konzepten, die teils wortwörtlich in Raum und Zeit verortet (verzeitet?) sind (z.B. der Beitrag von Hudzik zu Laboratorium und Kamin bei Schulz), mehrheitlich aber physisch weniger fassbare Schwellen behandeln (z.B. das Thema Schlaf und Krankheit bei Koehn, Persönlichkeitsauflösung bei Jachimowetz, Gender bei Kershaw und Cenedese). Teils sind die Untersuchungen auf die Meta-Textschwelle ausgerichtet, wo “Kontingenzen und Inkohärenzen, Destabilisierungen und Pluralisierungen von Zeit und Raum” (13) an verschiedenen erzähltheoretischen Aspekten festgemacht werden (z.B. die Analyse der Erzählerfigur bei Kocyba, multiple Perspektiven bei dem bereits erwähnten Beitrag von Koehn, Geschichtsschreibung bei Kindt und Körte).

Andererseits eignet den meisten Beiträgen auch ein stark literaturgeschichtlicher Schwerpunkt—die Autor/innen Némirovsky, Perutz und Schulz verbinden ähnliche Lebens- und Exilgeschichten und ihre jüdische Herkunft. Von einer breiteren Perspektive her gesehen bietet der Band denn auch über die drei untersuchten Autor/innen hinweg Einsichten in Autorenschicksale und literarische Tendenzen um 1900, welche das zeitgenössische (Krisen-)Bewusstsein mittels der Schwellenmetapher transportieren. So stellt...

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