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Reviewed by:
  • Versammelte Menschenkraft—Die Großstadterfahrung in Goethes Italiendichtung by Malte Osterloh
  • Stefan Buck and Eckhart Nickel
Malte Osterloh, Versammelte Menschenkraft—Die Großstadterfahrung in Goethes Italiendichtung. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2016. 366 pp.

Frei nach Alexander Kluge könnte man mit dem Begriff "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" ein leidiges kulturelles Phänomen bezeichnen, das inzwischen auch die Literaturwissenschaft erreicht hat: Es geht, kurz gefaßt, um einen den historischen Abstand großzügig nivellierenden Blick auf die Geschichte "von heute aus," der z. B. auf den Gemälden alter Meister plötzlich voller Begeisterung zeitgenössische "Hipster" entdeckt oder in klassischen Portraits die Vorwegnahme von "Selfies" sieht, also Begrifflichkeiten und Gegenstände unfriedlich über ganze Zeitalter hinweg zu vereinen sucht. Um einen zweifelsfrei weniger drastischen, aber im Grunde ähnlichen Fall handelt es sich bei einer Dissertation, die zur Promotion in Paris und Berlin führte. Allein die im Titel enthaltene Behauptung, Goethe hätte in Italien eine Form der Großstadterfahrung erlebt, ist allerdings mehr als fraglich. Weder war Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main zu seiner Zeit eine Großstadt—ca. 20.000 Einwohner—wie selbst der Verfasser verschämt einräumt, ohne allerdings die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen, noch hatte der Großdichter ein besonderes Bedürfnis nach einer solchen. Er zog zweifellos das beschauliche Weimar dem ihn unangenehm berührenden Berlin vor. All dies widerspricht keineswegs Goethes ausgeprägtem Kosmopolitismus, doch der hat mit Großstadterfahrung im Italien des 18. Jahrhunderts nichts zu schaffen.

Um die ausbleibende sorgfältige begriffliche Trennung von Stadt und Großstadt zu verdeutlichen, sei nur eine erste Textstelle ausführlich zitiert: "Unter Stadterfahrung verstehen wir quasi (sic!) alles, was Goethe in den jeweiligen Städten sieht und erlebt: zum Beispiel die Gebäude Palladios in Venedig, den Gottesdienst im Vatikan, die Lazzeroni in Neapel, den Besuch bei der Familie [End Page 312] Cagliostros in Palermo." Und weiter: "Venedig, Rom, Neapel und Palermo sind völlig verschiedene Städte und Goethe knüpft völlig verschiedene Erwartungen an sie." In der Tat, doch kein Wort mehr von der angeblichen "Großstadterfahrung," die zweifelsfrei im 18. Jahrhundert auch nicht in Italien nachzuweisen ist, denn sie gab es nicht. Die vom Verfasser genannten Beispiele stellen Anekdoten bzw. Erlebnisse Goethes in Italien dar, die ausschließlich seine Begeisterung für das Land und seine Kultur widerspiegeln können. All das ist aber schlechthin bekannt. Nur dass der Verfasser Goethe anhand einer Neuinterpretation der Römischen Elegien als Panoptikum "urbaner Liebe" und der "Aufrufung" von Dekadenz in den Epigrammen Venedig 1790 zu einem flanierenden Streuner machen möchte, der auch auf der Italienischen Reise vor allem "Großstadt"-Phänomene wie "Huren, Gaukler, Bettler" wahrnimmt. Das Jahrhundert Goethes indes kannte allenfalls zwei europäische Großstädte: Paris und London. An deren Beispielen hätte man die bekannten Darstellungen von Großstadtleben nachvollziehen können. Man denke nur an Lichtenbergs Bemerkungen zu Hogarths Kupferstichen, die auffällig in dem ansonsten so reichhaltigen Literaturverzeichnis fehlen. Doch hier geht es ja ausdrücklich um Goethes Italienerfahrungen, denen ein Begriff der Moderne aufgestülpt wird: Der Begriff des Flaneurs. Eifrig werden also Quellen und Sekundärliteratur zu diesem komplexen Thema des v.a. späten 19. und 20. Jahrhunderts zitiert, ohne allerdings dabei zu bemerken, daß es Goethe zwangsläufig am entscheidenden Moment der ästhetischen Erfahrung von Stadt mittels des Flaneurs fehlte: Der Erfahrung nämlich des "Choc" der modernen Großstadt. Poes "The man of the crowd" und Baudelaires "A une Passante" sind die signifikanten Beispiele dieser neuen Welterfahrung, beide selbstverständlich erst Jahre nach Goethes Tod dokumentiert. Es liegt folglich hier ein klassischer Fall der Erkenntnis "avant la lettre" vor. Der Verfasser gebraucht und zitiert Begrifflichkeiten der Flaneur-Literatur, die erst nach Goethes Tod und literarischer Produktion von Relevanz erscheinen. So scheint auch das Literaturverzeichnis mehr oder minder wahllos Goethe-Literatur zusammenzustellen, ohne den Eindruck schmälern zu können, daß auch Quellentexte nachlässig oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden. Warum z.B. wird nicht Louis-Sébastien Mercier genannt? Neben Lichtenberg einer der wenigen Kronzeugen von Großstadterleben im 18. Jahrhundert! Neben einer reichhaltigen Materialsammlung zu Goethes bekannten...

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