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  • Die Neuvermessung von Lyrik und Prosa in Goethes Novelle
  • Ehrhard Bahr

In seinem Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 18. Januar 1827 erklärte Goethe im Hinblick auf die Novelle, dass er "mit der Prosa jetzt am besten gefahren" sei.1 Aus der Vorgeschichte der Novelle ist bekannt, dass er 1797 im Anschluss an Hermann und Dorothea ein episches Gedicht in Hexametern unter dem Titel "Die Jagd" geplant hatte. Doch Schiller war gegen die Behandlung des Themas in Hexametern und riet zu achtzeiligen Stanzen. Dreißig Jahre später nahm Goethe das Thema der "Wunderbaren Jagd" wieder auf, wie er in seinem Tagebuch vom 4. Oktober 1826 notierte. Wilhelm von Humboldt teilte er wenige Wochen später mit, dass er den damals aufgegebenen Plan "prosaisch auszuführen" gedenke, "da es denn für eine Novelle gelten mag" (Brief vom 22. Oktober 1826). Dabei ergibt sich die Frage, warum Goethe das Thema der Novelle nicht vollständig in Prosa abgehandelt hat. Im Schlussteil der Novelle, vom Auftritt der Schaustellerfamilie an, geht die Textgestaltung von der Prosa teilweise ins Lyrische über und gipfelt in den Liedstrophen des Knaben der Schaustellerfamilie. Goethe unternimmt hier eine Neuvermessung von Prosa und Lyrik, die im Widerspruch zu seinen anfänglichen Werk-Aussagen steht. Er ging zu lyrischen Einlagen über, weil er die Prosa zur Vermittlung seiner Ideen nicht geeignet fand. Der Wechsel von Prosa und Lyrik steht also, so lautet mein Argument, in Zusammenhang mit der von Jane K. Brown herausgestellten dialektischen "Progression der Gattungshierarchie vom Realen zum Idealen." Im Gegensatz zur neoklassizistischen Unterscheidung der Gattungen in der bildenden Kunst habe Goethe in der Novelle ein eigenes Konzept für die Literatur entwickelt, das das Reale dialektisch mit dem Idealen verbindet.2 Dabei wird das Reale der Prosa zugeschrieben und das Ideale der Lyrik, wobei das eine nicht ohne das andere fungieren kann.

Meine These besteht in der Annahme, dass Goethe mit der Novelle ein Modell eines gewaltlosen Kreislaufs beziehungsweise Austauschs von Gesellschaft und Natur zu vermitteln suchte, für das es seinerzeit keine Terminologie gab. Diese Lücke wurde erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff der Ökologie geschlossen. Goethe hielt die Lyrik für die Vermittlung dieses Modells geeigneter als die Prosa, wie er im Gespräch mit Eckermann vom 18. Januar 1827 darlegte: "ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nötig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen." [End Page 289]

Um dieses Modell zu vermitteln verlieẞ Goethe sich auf biblische und kirchliche Modelle, wie es für seinen Altersstil durchaus typisch ist. (Man denke zum Beispiel an die Bergschluchten-Szene von Faust II, in der die katholische Himmelfahrt zur Rettung von Fausts Entelechie verwendet wird.) Insbesondere zitiert Goethes Novelle die bekannte biblische Friedensutopie und das Genre des pietistischen Kirchenliedes.3 Eine besondere Rolle für das Austausch-Modell spielt zudem das zweite biblische Simson-Rätsel. Mit Hilfe des vertrauten Textmaterials sollten neue Ideen vermittelt werden, die für die Leserschaft den Anbruch eines neuen Zeitalters ankündigten. Goethe ging es um friedlichen Austausch mit der Natur. Seine Novelle beginnt mit einem Auszug auf die Jagd und endet mit einer vorzeitig abgebrochenen Jagd, in deren Folge es zu einer utopischen Versöhnung von Mensch und Tier kommt, die zeigen sollte, dass "das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde."

Um den Wechsel der Gattungen zu verstehen, hilft es, sich klarzumachen, welche Themen in beiden Teilen abgehandelt werden. Im ersten prosais-chen Teil der Novelle wird die Welt des Adels am Ende des Feudalismus dargestellt. Es kommen Figuren vor, die, wie Fürst und Fürstin, wie Fürst Oheim und Hofjunker Honorio, sich den Änderungen der Neuzeit ohne Konflikt angepaßt haben. Die fürstliche Familie lebt nicht mehr auf der Stammburg, sondern in einem Residenz-Schloss. Der "mächtige Trutz- und Schutzbau von alten Zeiten" ist inzwischen zur Ruine verkommen und vom Wildwuchs der Natur übernommen worden: "niemand wüẞte zu sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber...

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