- Joseph Roth—Städtebilder: Zur Poetik, Philologie und Interpretation von Stadtdarstellungen aus den 1920er und 1930er Jahren ed. by Stéphane Pesnel, Erika Tunner, Heinz Lunzer, and Victoria Lunzer-Talos
Topographien sind en vogue. Seit dem spatial turn in den Kulturwissenschaften schießen Untersuchungen von Räumen und Orten in Form von literarischen und medialen Konstruktionen wie Pilze aus dem Boden. Obwohl die Rede von der paradigmatischen Wende auch in diesem Fall nichts als überschwängliche, um nicht zu sagen vermessene Fehltaxierung ist, darf man manch neuerer Arbeit zur Raumforschung bescheinigen, dass es ihr gelingt, etablierte Betrachtungs- und Interpretationsperspektiven um neue Zugänge zu erweitern.
Der vorliegende, zum großen Teil auf die 2014 in Paris veranstaltete Tagung „Les villes de Joseph Roth, images et impressions" zurückgehende Sammelband schreibt sich in diesen topographischen Trend ein. Die Beiträge sind unterteilt in die Kapitel: 1. Zur Poetik und Poetologie der Stadtdarstellung, 2. Real-imaginierte Städtebilder aus der Reportagenzeit, 3. Frankreich: meridionale Peripherie und Metropole als Zentrum und 4. Neues aus der Roth-Forschung. Erklärte Absicht ist, die Stadtdarstellungen des Journalisten, Reiseberichterstatters und Erzählers Joseph Roth zu untersuchen, wobei die leitenden Fragen sind, wie Roth Fakten und Fiktion, Beobachtung und subjektives Erleben verbindet, welche rhetorischen Mittel er in den verschiedenen Textgattungen einsetzt und inwiefern sich aus den urbanen Beschreibungen Roths eine Diagnose der Moderne ablesen lässt.
Beginnen wir mit den Schwächen des Bandes. Kritisch muss angemerkt werden, dass sich die Untersuchungen der Städtebilder nicht auf dem neuesten Stand der Forschung bewegen. So findet weder der von Thomas Eicher herausgegebene Band Joseph Roth und die Reportage (2010) noch der von Wiebke Amthor und Hans Richard Brittnacher 2012 vorgelegte Band zur Modernität des melancholischen Blicks bei Roth irgendwo Erwähnung, obwohl in beiden Büchern wichtige Aufsätze zur Inszenierung des Raums, zu Heterotopie und Passage zu finden sind. Was die Theorien zum erzählten Raum betrifft, werden die einschlägigen Studien von Nünning und Würzbach zwar kurz genannt, die von ihnen entwickelten Kategorien aber kaum angewandt. Dadurch wirkt mancher Beitrag harmlos und veraltet. Hinzu kommt, dass das vierte Kapitel und der Aufsatz des Mitherausgebers Heinz Lunzer über Roths Reise nach Südslawien und Albanien nichts mit dem zu tun haben, was der Titel verspricht.
Es gibt aber auch echte Highlights. Zu ihnen zählt Heinz Lunzers zweiter Aufsatz, der sich mit Roths Texten über Avignon und andere französische Städte des midi befasst. Lunzer erläutert Textvarianten, Entstehungsbedingungen, Vorstufen, Weiterverwertungen und Schreibprojekte, angereichert mit Überlegungen zur Bedeutung der Frankreich-Texte für Roths Leben und Karriere. Es tritt klar zutage, welch ungeheure Bedeutung das Buchprojekt Die weißen Städte für [End Page 109] Roth hatte und wie er dieses Buch, im Gegensatz zu der Artikelserie über Südfrankreich, konzipieren wollte: nämlich weit persönlicher und als eine Reise der Selbsterkenntnis. So wird die Farbe „weiß" im Buchprojekt stark betont und mit Bedeutung aufgeladen: „Sie ist das Charakteristikum des Neuen, glänzend, hell, gegenüber der grauen Symbolfarbe der Kindheit. Weiß meint natürlich auch die Unschuld, die Unverdorbenheit der Zivilisation, ist die ,Leitfarbe' und wird in jedem Textteil wiederholt und abgewandelt" (266). Dieser Beitrag Lunzers ist ein Kernstück des Bandes, da hier auch deutlich wird, wie Roth durch die Begegnung mit Paris, Avignon, Marseille, Tournon, Vienne und Nîmes ein neues Selbstverständnis als Schriftsteller gewann. Herta Luise Otts Aufsatz über die Artikelserie „Das mittägliche Frankreich" stellt eine gute Ergänzung zu diesem Themenkomplex dar.
Telse Hartmann begreift in ihrem Aufsatz zu Szenarien der Deplatzierung in Joseph Roths Berlin-Diskurs das Werk des österreichischen Autors als eine Auseinandersetzung mit dem Problem, „ob und wie sich kulturelle Identität und Subjektivität im Schnittfeld der zeitgenössischen Diskurse von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung neu [...] denken lassen" (101). Neu will...