In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens ed. by Andrea Albrecht et al.
  • Carsten Dutt
Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Herausgegeben von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase. Berlin: de Gruyter, 2015. 639 Seiten. €129,95 / $182.00 gebunden oder eBook.

Der aus einer Freiburger Tagung hervorgegangene Sammelband plädiert dafür, die wissenschaftstheoretische und -historische Selbstverständigung der Literaturwissenschaft durch praxeologische Perspektiven anzureichern. Was darunter zu verstehen sei, legen die Herausgeber im Ausgang von einer Begriffsexplikation dar, die unter Philosophen, Soziologen und Kulturwissenschaftlern unkontrovers sein dürfte. Demnach sind Praktiken,,routineförmige Tätigkeiten, die oftmals nicht vollständig durch explizierbare Regeln oder Methoden bestimmt sind, sondern in hohem Maße auf implizitem Wissen und Können – auf einem Know-how – beruhen, das durch Imitation und Beispiele erworben wird" (2). Uneingeschränkt konsensfähig dürfte auch die hinzutretende Annahme sein, dass die genannten Kriterien keineswegs nur für alltagsweltliche oder alltagsweltnahe Routinen und Kompetenzen, für die praxeologisch notorischen Beispiele des Autofahrens, Kochens oder Klavierspielens etwa, gelten. Auch wissenschaftlich disziplinierte Aktivitäten und unter diesen solche, die im Ausgriff auf neues, nicht schon gesichert zur Verfügung stehendes Wissen Forschungsaktivitäten [End Page 675] sind, transzendieren ihre jeweiligen theoretischen Grundlagen und methodologischen Normierungen, indem ihre erfolgreiche Ausübung Know-how verlangt, Know-how aber nicht anders als in institutionell und interaktionell situierten, dabei typischerweise langwierigen Prozessen der Erfahrungsakkumulation und des paradigmatischen Lernens – der Vorbildnahme also, des Einübens, Weiterübens, Übertragens, Adjustierens, Verfeinerns etc. – zu erlangen ist. Was speziell die Naturwissenschaften betrifft, so weiß man seit den bahnbrechenden Studien des Chemikers und Wissenschaftsphilosophen Michael Polanyi recht genau über die Rolle Bescheid, die wissenschaftssozialisatorisch erworbene skills in Forschungsprozessen spielen. Sie sind unabdingbar, fortwährend perfektibel und durch theoretisch-methodologische Handreichungen nicht zu ersetzen. Dass sich der analytische Fokus auf Praktiken und praxiskonstitutive Fertigkeiten auch wissenschaftshistoriographisch fruchtbar machen lässt, haben einschlägige Weiterentwicklungen der empirischen Wissenschaftsforschung eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Insofern ist es durchaus einleuchtend, ja im Grunde überfällig, praxistheoretisch informierte Fragestellungen auch in der Selbstbeobachtung der Literaturwissenschaft zur Geltung zu bringen. Die Entscheidung der Herausgeber, dabei nicht sogleich das ganze Aufgabenspektrum der Disziplin – Textkritik, Edition, Kommentierung, Literaturgeschichtsschreibung etc. – in den Blick zu nehmen, sich unter den Kerngeschäften des Fachs vielmehr auf das Geschäft des,,Interpretieren[s] literarischer Texte" (1) zu beschränken, ist aufmerksamkeitsökonomisch sinnvoll. Das mit dem Stichwort,,Interpretation" umrissene Feld ist wahrlich weit genug und die Vielzahl der Fragen, die die Herausgebereinleitung als relevant benennt, eindrucksvoll:,,Wie lernen Literaturwissenschaftler zu interpretieren?" (5) Wann und wie ist die Praxis der Textinterpretation innerhalb der Disziplin institutionalisiert worden? Welche,,Teilpraktiken" lassen sich an ihr typischerweise unterscheiden, und wie greifen diese Teilpraktiken –,,das Finden von Fragestellungen und die Auswahl relevanter Textstellen, die Einschätzung der Begründungsbedürftigkeit einzelner Deutungsschritte, der zitierende und argumentierende Umgang mit der Forschung, die Disposition, die rhetorische Gestaltung und das Aufschreiben des Interpretationstextes" (2) – ineinander? In welchen Interaktionsformaten und in welchen Textsorten – vom Exzerpt bis zur Monographie – wird,,Interpretationswissen" wie generiert und gespeichert, abgerufen und erweitert? Wie werden bewährte Interpretationsverfahren und lege artis gesicherte Interpretationsergebnisse disziplinintern vermittelt? Welche Rolle spielen Modellinterpretationen in diesem Zusammenhang? An welchen diskursiven und diskurspragmatischen Zielen orientieren sich literaturwissenschaftliche Interpretationen, und welche,,epistemischen Wertbegriffe" (7) leuchten ihnen dabei ausdrücklich oder implizit voran?,,Inwieweit ist bei der Beschreibung von Interpretationsverfahren mit der Existenz von interpretive communities oder Denkkollektiven zu rechnen?" (ebd.)

Es liegt auf der Hand, dass diese und hinzugehörige Fragen diachron differenzierende Untersuchungen erheischen. Praxeologie hat insoweit mit den Schwierigkeiten aller historisch rekonstruktiven Arbeit zu kämpfen: Welche Arten von Quellen oder Überresten erlauben es ab welcher Menge und Dichte, vergangene Interpretationspraktiken im geschichtlichen Zusammenhang ihrer Entstehung, ihrer Dauer und ihres Wandels deskriptiv zuverlässig und explanatorisch triftig zu exponieren? Wann hingegen müssen sich solche Rekonstruktionsanstrengungen mit Vermutungen darüber [End Page 676] begnügen, wie es im Vorfeld und Umfeld schriftlich überlieferter Interpretationszeugnisse interpretationspraktisch eigentlich gewesen sein könnte?

So oder so: Eine synchrone Bestandsaufnahme der im gegenwärtigen Lehr- und Forschungsbetrieb der Literaturwissenschaft etablierten und gewissermaßen,vor Ort' beobachtbaren Interpretationspraktiken kann praxeologisch nicht genügen. Auch wäre es offenbar untunlich, Praxeologie gegen Theorie...

pdf