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  • Dekadenz. Oberfläche und Tiefe in der Kunst um 1900 von Martin Urmann
  • Rolf J. Goebel
Dekadenz. Oberfläche und Tiefe in der Kunst um 1900.
Von Martin Urmann. Wien: Turia + Kant, 2016. 711Seiten, €42,00.

In der Literatur, Musik und bildenden Kunst um 1900, besonders der Décadence bzw. des Fin-de-Siècle, bilden sich bekanntlich ästhetische Impulse und Programme aus, [End Page 482] die für nachfolgende Strömungen der Moderne bahnbrechend geworden sind. Zu nennen wären hier vor allem die radikale Kritik am technisch-sozialen Fortschritt, die Erkundung des Traums, des Unbewussten und der Perversität, der Kult der Künstlichkeit, die Faszination des Grauenhaften, die Zentrierung der selbstbezüglichautonomen Sprache der Poesie und die Infragestellung der Einheit menschlicher Identität. Insofern ist es begrüßenswert, dass sich die vorliegende Studie ein weiteres Mal dieser Umbruchsepoche zuwendet. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Pariser und Wiener Dekadenzkunst, repräsentiert vor allem durch Charles Baudelaire, Joris-Karl Huysmans und Stéphane Mallarmé einerseits und Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal anderseits. Ausführlich zeigt Urmann, dass gerade die dekadente Kunstautonomie und andere ästhetische Positionen nur als Reaktion auf eingreifende soziale Veränderungen verstanden werden können. Das Entstehen der Kulturindustrie, der Zeitschriften- und Buchmarkt und der Antisemitismus in der Habsburger Monarchie wären einige der wichtigsten Stichwörter. Entscheidend und methodisch aufschlussreich ist freilich der breitangelegte musikalisch-auditive Ansatz, der sich, gerade als literarisch fokussierter, mit neueren Tendenzen in den Sound Studies bzw. der kulturwissenschaftlichen Neudefinierung der Musikwissenschaften trifft.

Programmatisch eröffnet Urmann seine Studie deshalb mit einer vorbildlich detaillierten und subtilen Deutung der Dritten Symphonie von Gustav Mahler, die er als eine Art Urszene der Polarität von ,,rauschhafter Bewegung und traumhafter Vision“ (28) bzw. ,,rauschhafter Entgrenzung und traumhaft-reflexiver Versammlung“ (41) ansieht. Dieser Topos geht natürlich auf Nietzsches von Wagner inspirierte Dualität des Apollinischen und Dionysischen zurück, der Urmann eine ausführlich rekapitulierende Darstellung widmet. Über die anschließende Interpretation des ebenso bahnbrechenden Prélude à l’après-midi d’un faune von Claude Debussy, der mit Mahler das Kraftfeld der ,,wagnerischen Polyphonie und Leitmotivtechnik“ teilt (73), sieht Urmann in der Musik zu Recht eine noch unausgeschöpfte ,,Leitfunktion“ für die Literatur um 1900 (71–72). Das führt Urmann zu der schrittweise die gesamte Studie durchziehenden Entwicklung einer intermedial-synästhetischen Theorie der ,,Resonanz“ bzw. des ,,Resonanzgrundes“. Ihn umreißt er eingangs als Darstellung des tragischen ,,Scheitern[s] der Identität der Form über dem dionysischen Fluss“ und der ,,unterschwellige[n] Lust an der Zerstreuung in der Sphäre unendlicher Vermittlung“ (75). Gerade weil das Resonanzmodell, wie mir scheint, eine fruchtbare hermeneutische Alternative zu einseitig analytisch-rationalistischen Festlegungen ästhetischer Bedeutung bietet, entzieht es sich selber jeder handgreiflich und endgültig definitorischen Fixierung. Ich zitiere deshalb einige mir wichtig erscheinende Kernstellen, um das unentwegt Gleitende und sich immer wieder Variierende des Konzepts anzudeuten. Vor allem aus dem Bereich der Akustik bzw. Musik stammend, aber auf Literatur und bildende Kunst übertragbar, umreißt der Begriff der Resonanz die ,,nicht semiotisierbaren Sinnüberschüsse vor der Zuschreibung stabilisierbarer Bedeutungen“ (84), die ,,Gleichzeitigkeit von reflexiver Selbstbefindlichkeit und dem Bezug zum Anderen im Wahrnehmen“ (86), und einen direkt hermeneutischen Bezug auf den menschlichen Leib als ,,Stätte der Resonanz“ (96). Daraus ergibt sich, dass ,,der dem Resonanzgrund entsteigende Sinn ein Wellenzug [ist], von dem der Leib sich in affektiver Antwort auf die Gewahrung der Präsenz seines In-der-Welt-Seins durchwirkt fühlt“ (101; Hervorh. im Original). Besonders für Urmanns These, dass die Ästhetik der Dekadenz sich radikal der paradoxen Darstellung des irreduzibel Unsagbaren [End Page 483] zuwendet, ist der Begriff des Resonanzgrundes nutzvoll als das ,,sprichwörtlich Unaussprechliche, das sich nur am dichtesten Punkt der künstlerisch voll ausgereizten Vermittlungstexturen kurzfristig zeigt“ (113). Dem entspricht, dass besonders bei Mallarmé die Lyrik nicht mehr von der Subjektivität einer persönlich-individuellen Stimme her konzipiert ist, sondern primär von der selbstbezüglichen, klanglichmusikalischen Sprache (326–327, 373–374). In Schnitzlers Werk kommt gerade der Musik eine privilegierte Fähigkeit ,,bei der Erhellung dieses unsagbaren Grundes“ zu (480). Im Leutnant Gustl etwa gestaltet der Dichter durch die Beschwörung von...

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