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Reviewed by:
  • Sebald's Vision by Carol Jacobs
  • Thomas Wild (bio)
Carol Jacobs. Sebald's Vision. New York: Columbia University Press, 2015. 296 pages.

Der Titel von Carol Jacobs' Buch zu W. G. Sebald begegnet uns mit einer suggestiven Dichte wie die Titel jenes Autors selbst: Sebald's Vision verweist auf ein Zusammenspiel von Sehsinn, Vorstellung und Traumbild, konkreter Ansicht und weiterreichender Vision. Das Augenmerk dabei auf vielfältige Tropen des Sehens zu legen oder selbst eine Konzentration auf jene unstillbar verstörende Kraft der Photographien und Abbildungen in Schwindel. Gefühle, Die Ausgewanderten oder Die Ringe des Saturn wäre allerdings zu eng und zu konventionell für die Autorin von Skirting the Ethical (2008). Jacobs widmet sich den Vorstellungswelten und Sichtweisen Sebalds auf grundsätzliche Art—"So what is it that Sebald is after?" (25). Dabei stellt sie eine provokative Frage: Bekanntermaßen praktiziere Sebalds Literatur eine Poetik der Auflösung, des Mäanderns, der zielgerichteten Desorientierung—wie aber lasse sich eine solch radikale Poetik der Ungewissheit mit jener moralischen Gewissheit vereinbaren, die Sebalds Schriften gleichermaßen charakterisiert? (Preface, x)

Zum Beispiel Die Ausgewanderten (1992): Das Buch schildere "mit großem Feingefühl" die "Lebens- und Leidensgeschichten von vier aus der europäischen Heimat vertriebenen Juden," erklärt—bis heute—der Verlagstext auf dem Umschlag. Jacobs' Kapitel, das in deutscher Fassung bereits in dem von Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke herausgegebenen Sammel-band Literatur als Philosophie—Philosophie als Literatur erschienen war, stellt [End Page 779] angesichts irritierender Fehlleistungen in dieser Beschreibung die Gegenfrage: "What does it mean to count?" (21). Denn zum einen ist Ambros Adelwarth, eine der vier Hauptfiguren der Ausgewanderten, nicht jüdisch; zum anderen wird Paul Bereyter, die Hauptfigur einer weiteren Geschichte, in zitiertem NS-Jargon als "Dreiviertelarier" bezeichnet. "What does it mean to be a quarter Jew?," so Jacobs: "What does it mean instead of four Jews there are only two and a quarter in The Emigrants? And what does it mean to count like a publisher? What is a Jew, and how does one make him count?" (22). Wer in der Folge dieser Fragen eine sprachpolizeiliche Untersuchung erwartet, hat sich verrechnet. Jacobs zeigt auf faszinierende Weise, wie Tropen von "Staub" und "Bestäubung" gleichsam geisterhaft die unterschiedlichen Geschichten der Ausgewanderten miteinander verbinden, "a cross-pollination of memory's fragmentary images from one chapter to another" (28). An anderer Stelle liest sie das zerbrochene Glas eines Lichtbilds und des so auf die Leinwand vergrößerten Risses zusammen mit der Gletscherspalte, in die eine Figur der Selwyn-Erzählung verschwunden war, deren Gebeine, wie ein Zeitungsfoto vermuten lässt, nach Jahren durch die Bewegungen des schmelzenden Eises an die Oberfläche gefördert wurden—ein subtiles Denkbild für Sebalds Poetik geschichteter, fragmentierter Projektionen. Unheimlich ist dann die Wendung am Ende jenes Kapitels, wenn Jacobs zwei Fotos aus dem Archiv des Jüdischen Museums in Frankfurt abbildet, die Sebalds Buch lediglich in Worten beschreibt. Etwa das Foto des Geld zählenden Ghetto-Buchhalters von Litzmannstadt namens Genewein, dessen Perspektive auf Frauen hinter ihren Webstühlen im Ghetto das narrative Schlussbild der Ausgewanderten bildet. "Sebald places his narrator, himself, of course, too, on the spot—on the spot where the accountant, the Rechnungsführer, had stood, that keeper of books and financial expert, who was good at taking on silver and no doubt knew all too well how to count by quarters" (37). Am Ende, so Jacobs, könnten wir auf Sebalds Erzähler nicht zählen—im besten Sinne des Wortes, das heißt eines lebendigen Widerstands gegenüber einem Denken gemäß bio-logischer Definitionen. Dennoch sucht die Zahlenlogik von Sebalds Erzählungsband dessen Lektüre weiterhin heim. Und mit ihr die Frage, ob sich in Sebalds literarische Widerständigkeit auch eine selbstgerechte Berechnung derselben eingeschlichen haben könnte?

"I think that fiction writing, which does not acknowledge the uncertainty of the narrator himself, is a form of imposture" (76), erklärte Sebald 1998 in einem Interview mit James Wood. Angesichts der nahezu unverrückbaren Überzeugung, mit der Sebald in seinen 1997 in Zürich gehaltenen Vorlesungen Luftkrieg und Literatur erklärt, wie Literatur die Erfahrungen des Bombenkrieges richtig zu erzählen habe...

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