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  • Lorbeerkranz und Palmenzweig: Streifzüge im Gebiet des poetischen Lobs by Johannes Anderegg
  • Hans Rudolf Vaget
Johannes Anderegg. Lorbeerkranz und Palmenzweig: Streifzüge im Gebiet des poetischen Lobs. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2015. 295 pp.

"Streifzüge" auf dem weiten Feld des poetischen Lobs nennt Johannes Anderegg seinen jüngsten Beitrag zur literarischen Ästhetik, dem Lebensthema des distinguierten St. Galler Germanisten. Die Bezeichnung "Streifzüge" signalisiert in sympathischer Bescheidung den bewusst unsystematischen Charakter des Unternehmens: "Wer sich auf einen Streifzug begibt, will Eindrücke gewinnen und Erfahrungen sammeln, er orientiert sich aber nicht an den 'scenic views,' die ihm von anerkannten Wanderkarten in Aussicht gestellt werden, sondern nimmt sich die Freiheit, an oft Bewundertem achtlos vorbeizugehen und da zu verweilen, wo ihn etwas überrascht, irritiert, berührt oder auch amüsiert" (9). Man folgt Anderegg auf seinen Streifzügen mit Vergnügen, dankbar für kundige und erhellende Belehrung, für eine unaufgeregte Betrachtung zum Wesen der Dichtung und die klare, auf jegliches Imponiervokabular verzichtende Sprache.

Wohl wissend, dass "mit Regeln … dem poetischen Lob nicht beizukommen" (11) ist, bewegt sich Anderegg—an keine Mode gebunden und keinem gerade aktuellen Kronzeugen verpflichtet—durch die Dichtung vor und nach Goethe mit einer Souveränität, die einem Alterswerk gut zu Gesicht steht. Gleichwohl schauen wir keinem ziellosen Fischzug zu, sondern einer gezielten literarhistorischen Tiefenbohrung. Ein fester Bezugspunkt: die Erscheinung des Knaben Lenker in Goethes Faust, der wohl rätselhaftesten und tiefsinnigsten Allegorie [End Page 284] der Poesie und des Poeten in der deutschen Literatur, dient Andereggs Streifzügen gleichsam als Kompass.

Wer Andereggs voraus gegangene Studie zum Faust kennt (Transformationen. Über Himmlisches und Teuflisches in Goethes Faust, 2010), wird nicht überrascht sein, dass ihm auch in vorliegendem Fall der Faust-Dichter zum Anker und gewissem Sinn auch als Zielpunkt dient. So wie in Transformationen eine genaue und weit ausholende Analyse der Szene "Bergschluchten" das derzeit dominante Verständnis des umstrittenen Faust-Schlusses in Frage stellt, so problematisiert Lorbeerkranz und Palmenzweig kraft einer eingehenden Betrachtung des Knaben Lenker das dominante Bild von Goethes Dichtungsverständnis, das immer noch am Begriff der Erlebnisdichtung festgemacht ist. In dem Buch über "Bergschluchten" liefert Anderegg den Nachweis einer erstaunlich dichten Vernetzung von Goethes kühner Bildlichkeit mit biblischen Texten, religiösen Narrativen und einschlägigen Motiven der bildenden Kunst. In der vorliegenden Untersuchung führt er uns über die vernachlässigten Gefilde der Lobdichtung von Pindar und Horaz zu den Poeten des 16. bis 18. Jahrhunderts, insbesondere den beiden neulateinischen Dichtern Conrad Celtis und Jacob Balde—bis hin zu Hölderlin und Rilke. Stellt das Buch über den Faust-Schluss ein gewichtiges ceterum censeo dar zu der in Albrecht Schönes Kommentar vertretenen, sogenannten Origines-These von der Wiederbringung aller Dinge in Gott, so reibt sich das Buch über den Knaben Lenker an den Faust-Kommentaren Karl Eibls und Ulrich Gaiers, denen "Missverständnisse" (21) angelastet werden, weil sie der uneingeschränkt gültigen, an eine ehrwürdige Tradition anknüpfende Verherrlichung der Poesie und des Poeten im Knaben Lenker nicht gerecht werden.

Andereggs Streifzug nimmt von dem rätselhaften Auftritt des Knaben Lenker in der Mummenschanz-Szene im ersten Akt des Zweiten Teils seinen Ausgang und kehrt in einen abschließenden Exkurs zu dieser Szene zurück, um die gewöhnlich übergangene Thematik des Lobsprechens im gesamten Faust in den Blick zu nehmen und die Gegenbilder des Knaben Lenker als solche kenntlich zu machen (Euphorion) und an die Fragwürdigkeit des Preisens etwa im Osterspaziergang oder am Ende im Lied des Türmers zu erinnern. Lorbeerkranz und Palmenzweig ist somit durchaus als ein Goethe- beziehungsweise Faust-Buch zu verzeichnen, auch wenn dieser zentrale thematische Bezug aus seiner Betitelung nicht sofort zu erkennen ist. Wenn man will, haben wir es also mit einer einzigen, großen und meisterhaften Anmerkung zum Knaben Lenker zu tun. Sie liefert den Nachweis, dass der Dichter, dem es vermeintlich nur darum zu tun war, zu sagen, wie er leidet, an einer viel älteren, ehrwürdigen Auffassung von Dichtung teilhatte—einer heute "nicht hoch im Kurs" stehenden (9), die in Hölderlins "Beruf ist mirs, / Zu rühmen Höhers" und in Rilkes "Rühmen, das ists!" ihre prägnanteste Bestimmung erfuhr...

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