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  • "War Goethe ein Mohammedaner?":Goethes West-östlicher Divan (1819) als Spiegelungsfläche in Thomas Lehrs September. Fata Morgana (2010)
  • Inge Stephan

Wer sich selbst und andere kennt,Wird auch hier erkennen:Orient und Okzident,sind nicht mehr zu trennen.

—Goethe, West-östlicher Divan

Der Kontext

Die provokante Frage "War Goethe ein Mohammedaner?" stellte Manfred Osten im Jahre 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung.1 Er schaltete sich damit in eine Debatte ein, die durch die Ereignisse des 11. September 2001 ausgelöst worden war. Dass diese Frage in Zeiten, in denen unter dem Eindruck zunehmender Migration und Fremdenfeindlichkeit erbittert darüber gestritten wird, ob der Islam zu Deutschland gehöre,2 eine neue Aktualität gewonnen hat, zeigt ein Essay von Martin Walser aus dem Jahre 2016, in dem dieser die Lektüre von Ostens Aufsatz empfiehlt.3 Osten, der als Goethekenner und -liebhaber einen guten Ruf hat,4 weist in seinem Artikel auf Goethes Hymnus Mahomets Gesang (1772/73) und vor allem auf den West-östlichen Divan (1819) hin. Er betont nicht nur die "Modernität" von Goethes Islam-Verständnis, sondern auch den Mut, mit dem sich der Dichter gegen islam-feindliche Tendenzen in seiner Zeit gestellt habe: "Goethe setzte sich mit dem 'West-östlichen Divan,' seiner Reverenz an den Orient, bewusst dem Verdacht aus, selbst ein 'Muselmann' zu sein" (Osten, "Islam"). In diesem Zusammenhang erinnert Osten an das Standardwerk der in den USA lebenden Germanistin Katharina Mommsen über Goethe und die arabische Welt (1988), dessen "kulturpolitische Bedeutung" (Osten, "Islam") weitgehend unbemerkt geblieben sei: "Nach den Ereignissen des 11. September 2001 scheint es geboten, auf dieses bahnbrechende Werk erneut hinzuweisen" (Osten, "Islam").

Hinter der Frage Ostens scheint unausgesprochen die politische Debatte über das Verhältnis zwischen dem 'Orient' und dem 'Okzident' auf, die Edward Said mit seiner Studie Orientalism (1978) angestoßen [End Page 265] hat und deren Rückwirkungen sich bis heute in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen beobachten lassen. Saids Behauptung "The relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony"5 hat dabei vor allem den postcolonial und gender studies weltweit Auftrieb gegeben. Sie ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben und hat unter dem Eindruck des 11. September zur Ausbildung eines Konzeptes von Okzidentalismus6 geführt, in dem Saids Hegemonie-These produktiv gewendet wurde, um das Verhältnis von 'Ost' und 'West' als einen wechselseitigen Prozess von stereotypen Zuschreibungen, Verkennungen und Überschätzungen zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang hat auch Goethes Divan erneute Aufmerksamkeit gefunden.7

Es geht hier nicht darum, diese Debatten in ihren Einzelheiten zu entfalten. Vielmehr möchte ich zeigen, in welchem diskursiven Netz die Frage "War Goethe ein Mohammedaner?" steht. Ich habe sie nicht nur wegen ihrer aktuellen politischen Brisanz als Titel gewählt, sondern vor allem deshalb, weil sie in dem Roman September. Fata Morgana (2010) von Thomas Lehr eine Rolle spielt. Sie findet sich dort in der abgewandelten Formulierung "war Goethe ein Muslim?"8 wieder. An anderer Stelle steht die Behauptung "Goethe war Araber" (Lehr 413). Dass Lehr, der von der Neuen Zürcher Zeitung als "einer der klügsten deutschen Schriftsteller"9 gelobt worden ist, mit solchen Passagen offensichtlich auf Ostens Artikel in eben dieser Zeitung anspielt, ist dabei weniger bemerkenswert als die Tatsache, dass der ganze Roman auf der Folie von Goethes Gedichtzyklus West-östlicher Divan geschrieben ist.

Dies ist von der Kritik nicht unbemerkt geblieben. Tilman Krause lobte den Roman als eine "vierstimmige rhapsodische Ballade über den elften September und die Folgen."10 Ähnlich positiv äußerte sich Beatrix Langner:

Es ist ein ungewöhnliches, leidenschaftliches und kühnes Buch, das den Klang archaischer Heldengesänge und orientalischer Märchen mit europäischen Diskursformen—Reflexion, Meditation, Dialog, Elegie—zu einer vielstimmigen Sonate komponiert.11

Es sei jedoch nicht verschwiegen, dass es auch Verrisse in der Zeit und im Spiegel gab, aus denen deutlich wird, dass sich die Rezensenten vor allem von dem Anspruch und der Komplexität des Schreibprojektes überfordert fühlten.12 Dass der Roman auch außerhalb von Deutschland Aufmerksamkeit fand, zeigt nicht nur die Übersetzung ins Amerikanische,13 sondern auch erste wissenschaftliche Arbeiten, die inzwischen zu September vorliegen.14

Der Durchbruch als Autor ist...

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