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  • Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil by Wilhelm Voßkamp
  • Klaus L. Berghahn
Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil. Von Wilhelm Voßkamp. Berlin, Boston: de Gruyter, 2016. vii + 384 Seiten + 8 s/w Abbildungen. €99, 95 / $140.00.

In einem gewichtigen Sammelband hat Wilhelm Voßkamp 29 seiner Arbeiten zur Utopie, die über drei Jahrzehnte entstanden, zusammengetragen. Seit dem denkwürdigen Utopieforschungs-Seminar, das er 1980/81 am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld durchführte, hat er regelmäßig weitere Arbeiten [End Page 130] zu diesem Thema veröffentlicht und wurde damit zum herausragenden Utopieforscher seiner Generation.

Schon die Definition der Utopie in der Einleitung des Buches ist eine exzellente Zusammenfassung dessen, was man heute unter utopischem Denken versteht, also vor allem eine Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Zustände, Möglichkeitsdenken als wichtigste Funktion des utopischen Denkens und die Differenzen zwischen Utopie und Dystopie.

Was in der Einleitung folgt, ist ein Forschungsbericht dessen, was seit dem utopischen Jahr in Bielefeld veröffentlicht wurde. Verständlich, dass Voßkamp als gewissenhafter Forscher auf diese neueren Tendenzen eingehen musste, aber ein Gewinn für die Aussatzsammlung sind sie kaum, selbst wenn er von einer gegenwärtigen „Renaissance der Utopie” spricht (8). Gewiss, an Utopien wird weiterhin gebastelt, und diese Ausdehnung der Diskussion wird angeregt durch neue Forschungsfelder wie die Ökologiedebatte (Ernst Callenbachs Ecotopia, 1975), die Humangenetik und die Computertechnologie, die „nicht nur Aspekte des Politischen und Gesellschaftlichen betreffen” (9). Doch das ist ein weites Feld, das über die von Voßkamp behandelten literarischen Utopien hinausgeht.

Nur, warum Voßkamp sein Buch Emblematik der Zukunft nennt, bleibt auch am Ende der Einleitung, wenn er kurz auf die Titelformel eingeht (13), ein Rätsel. Es ist verständlich, dass Voßkamp als Fachmann der Emblematik diese auch mit seinem Verständnis des utopischen Denkens verbinden möchte; doch lässt sich die statische Bildlichkeit der Emblematik mit der sozialkritischen Erzählweise des utopischen Genres kaum vergleichen.

Was auf diese komplexe Einleitung folgt, sind 29 Interpretationen, die Voßkamp als Kenner des utopischen Denkens ausweisen. Seine Interpretation von Thomas Morus’ Utopia ist die philosophische und stilistische Grundlage für die folgenden Interpretationen und Variationen des utopischen Denkens. Sie wird ergänzt durch einen zusammenfassenden Überblick zur Geschichte der literarischen Utopien von Morus bis zur Gegenwart (77ff.). Diese sind typologisch geordnet: Auf die Interpretationen der klassischen Raumutopien – Thomas Morus’ Utopia (1516), Tommaso Campanellas Civitas Solis (1601/1613) und Francis Bacons Nova Atlantis (1627) – folgen die in die Zukunft projizierten Zeitutopien nach dem Muster von Louis-Sebastien Merciers L’An 2440 (1770). Den Übergang zwischen diesen beiden klassischen Typen der Utopie bilden Reiseromane wie etwa Cyrano de Bergeracs Die Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen (1642ff.) und die Robinsonaden des 18. Jahrhunderts, deren Modell Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) war. Im 19. Jahrhundert lassen sich Ausdifferenzierungen des literarischen Genres beobachten, von den utopischen Entwürfen der Frühsozialisten bis hin zu H.G. Wells’ The Time Machine (1895) und Modern Utopia (1905). Zu den wirkungsvollsten Utopien des 19. Jahrhunderts zählte Eduard Bellamys Looking Backward 2000-1887. A Fairytale of Social Felicity (1888), die sogar für den Präsidenten Roosevelt als Modell eines modernen Wohlfahrtsstaates diente. Die literarischen Utopien des 20. Jahrhunderts sind durch eine Kritik des traditionellen Genres gekennzeichnet, welche jedes teleologischutopische Denken radikal in Frage stellt, was zu einer Dominanz der dystopischen Formen führte. Die drei Prototypen dieser utopischen Schreckensbilder sind: Jewgenij Samjatins My [Wir] (1921), Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949), von denen vor allem Orwells Roman als Kritik [End Page 131] des Stalinismus überaus erfolgreich wurde. Zwei weitere Tendenzen des utopischen Denkens im 20. Jahrhundert charakterisiert Voßkamp als Möglichkeitsdenken und Messianismus.

Möglichkeitsdenken, das schon ein zentraler Gesichtspunkt der Einleitung war, wird zum Abschluss an Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930ff.) nochmals exemplarisch aufgegriffen. Denn für Ulrich, den Helden des Romans, gilt es als ausgemacht, dass es einen Möglichkeitssinn als Gegenpart zum Wirklichkeitssinn geben muss, dessen utopische Tendenz sich in einem ironischen Konjunktiv artikuliert...

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