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Reviewed by:
  • Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen by Simon Ganah
  • Ana Foteva
Simon Ganah, Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen. Konstanz: Konstanz UP, 2015. 236 S.

Dieses Buch liest sich wie ein enzyklopädisch-fiktives und philosophisches Werk, in dem der Publizist und Schriftsteller Karl Kraus und der Schriftsteller und das Symbol der Wiener Kaffeehauskultur Peter Altenberg als “Akteure und Aktanten zugleich” (10) agieren, um die Leser durch die Medienpropaganda der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts (Kraus) und die Diskurse der Ethik, gesunden Lebensweise, Reklame und des essayistischen Stils der Jahrhundertwende (Altenberg) zu begleiten. Die realen Personen werden durch ein “performatives Lesen” in die Typen K.K. und P.A. umgewandelt, die in ihren Werken exemplarisch moderne Haltungen “im Kampf mit Haltungen einer Gegenmoderne” erschließen (13). Als repräsentatives Werk des Typen K.K. wird die Dritte Walpurgisnacht (1933) und des Typen P. A. Pròdrŏmŏs (1905) gewählt.

In der Dritten Walpurgisnacht wird die Berichterstattung der sozialdemokratischen (Arbeiter-Zeitung), bürgerlichen (Neue Freie Presse) und christlich-sozialen (Reichspost) Presse sowie des Rundfunks und Kinos in Österreich über drei politische Ereignisse von 1933 in Deutschland analysiert: die Schutzhaft, die Zweite Revolution und den deutsch-österreichischen Konflikt. In dieser Hinsicht sind die Vergleiche zwischen den auseinanderklaffenden Aussagen der drei Zeugen über den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und K.K.s Befürwortung der Möglichkeit für eine objektive Wiedergabe der Geschehnisse besonders wichtig für das Thema des Buches. Im Gegensatz zu den drei subjektiven Fassungen des objektiven Tatbestandes, die die Zeugen [End Page 108] je nach ihrer politischen Anschauung mithilfe von Einzelheiten aus anderen Quellen (Zeitungsberichten oder Aussagen anderer Zeugen) schaffen, argumentiert K.K. in der Dritten Walpurgisnacht, anstatt Schlussfolgerungen aufgrund der persönlichen Wahrnehmung zu ziehen, sei es möglich, die Wahrheit zu berichten, indem man die reine Wahrnehmung einfach wiedergebe, ohne von sinnlichen Eindrücken zur intellektuellen Einsicht emporzusteigen (22). Für den Autor stellt der Typus K.K. daher einen “Wahrheitspragmatiker” dar, der daran glaubt, dass alle Menschen durch ihre Wahrnehmung denselben objektiven Fall mit eilen können. Die reine Wahrnehmung kann allerdings nach K.K. keineswegs durch die Medien des 20. Jahrhunderts vermittelt werden, weil sie akustische und optische “Prothesen” des Menschen geworden sind und daher den Prozess der Wahrheitsfindung unausweichlich beeinträchtigen (24).

Ein repräsentatives Beispiel von K.K.s Auseinandersetzung mit der Presse in Bezug auf die mangelnde Objektivität der letzteren veranschaulicht den Prozess des Wahrheitspragmatismus, der, wie üblich bei Kraus, durch die Technik der Montage verläuft. Bei der Analyse der kz-Berichterstattung kombiniert K.K. Artikel der Arbeiter-Zeitung und der Neuen Freien Presse sowie Aussagen eines Mitgefangenen und bet et sie in der Dritten Walpurgisnacht in eine fiktive Erzählung ein, um durch Ironie den amtlichen Täuschungsversuch über den Mord an einem Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei zu entlarven.

Im Zwischenspiel werden die Modi Operandi der beiden Typen gegenübergestellt und als “kakanisch” bzw. “panisch” definiert. Diese Bezeichnungen gehen über die phonetische Ähnlichkeit zu den Namen der Akteure hinaus und spielen auf Musils Kakanien bzw. den altgriechischen Halbgot Pan an. Das in dem Akteur K.K. verkörperte kakanische Prinzip bezieht sich auf die Aufklärung und die darauf beruhende “Souveränitätsgesellschaft” im Sinn von Foucault, in der die Bürger räsonieren, aber letztendlich einem vernünftigen und aufgeklärten Monarchen gehorchen. Dieses Machtverhältnis bezeichnet der Autor als kakanisch. Der strengen Struktur der Aufklärung steht das panische Prinzip des Akteurs P.A. gegenüber, das sprunghaft wie der arkadische Hirte auf die Steigerung der Lebenskraft ausgerichtet ist. Da der Autor schon in dem Zwischenspiel zu dem berechtigten Schluss kommt, dass K.K. vom Zeitalter der Aufklärung herstammt, P.A. dagegen “als bockiges Kind einer Moderne” (116) auftritt, stellt sich die Frage, ob K.K. doch nicht im Sinne der Kritik an den Medien und der von ihnen instrumentalisierten [End Page 109] Technologie eine eher gegenmoderne Haltung repräsentiert. Denn, wie das Buch weiter ausführt, macht P.A. sich die Sprache und Repräsentationsmöglichkeiten der Presse zunutze, ohne ihre aus K.K.s Sicht verheerende Wirkung auf die aufklärerische...

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