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  • Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber: Ein Versuch, den Zuschauer zu theoretisieren
  • Simona Travaglianti (bio)

Im zeitgenössischen Theater, ob nun auf experimentelleren Off- oder etwas weniger verspielten Stadttheaterbühnen, hat sich die Rolle des Zuschauers verändert: Sie wurde aufgewertet. Im Rahmen verschiedenster inszenierter Situationen fungiert der Zuschauer wesentlich häufiger als aktiver Teilnehmer, als anwesender Zeuge, als partizipierender Mitgestalter, der zusätzlich eine gewisse Mit-Verantwortung an den Geschehnissen trägt, als dass er passiver Konsument oder Voyeur sein darf. Dies wurde natürlich erst möglich, nachdem er belehrt, beschimpft und angeschrien wurde. Nachdem er, von Indien aus ferngesteuert, spazieren geführt wurde. Nachdem er gebeten wurde, auf den Brettern, die einst die Welt bedeuteten, Platz zu nehmen, anstatt im Parkett. Nachdem er basisdemokratisch über die Abschiebung illegaler Migranten mitbestimmen durfte. Nachdem er in ein intimes Gespräch mit dem Künstler höchstpersönlich involviert wurde, auf gleicher Augenhöhe, face to face. Oder nachdem ganz einfach das Licht im Zuschauersaal nicht ausgeschaltet wurde. Natürlich: Nachdem er an bestimmte Nicht-Theater-Orte geführt wurde, wie in kalte Industriehallen, aseptische Atombunker, erlebnisreiche Einkaufszentren oder an Plätze, Orte und Straßen inmitten des städtischen Raumes. Aus seiner vermeintlichen Passivität befreit, wird der Zuschauer zum Mit-Beteiligten, Ko-Autor oder Katalysator der theatralen Aktion. Neben den Performern erhält auch er eine Rolle, die konstitutiv ist und das Zustandekommen der Aufführung determiniert. Die Position und Konzeption des Zuschauers wird in Bewegung versetzt, so sehr, dass sich zeitweilig die Grenze zwischen Betrachter und Darsteller aufzulösen scheint.

Dieses Phänomen taucht in unterschiedlichen zeitgenössischen Theaterprojekten und -formen auf. Die Position des Theater-zuschauers möchte ich nun anhand eines Beispiels aus den 1970er-Jahren analysieren. Die Theaterformation Squat Theatre, in den 1970er und 1980er Jahren in New York ansässig, bringt die Zuschauer in eine fürs Theater regelrecht nonkonformistische Lage und spielt mit dem Dispositiv der theatralen „Schauanlage.“1 Ihre Projekte scheinen mir für die Auseinandersetzung mit der Rolle des Zuschauers äußerst bedeutsam zu sein. Mit der Inszenierung Andy Warhol’s Last Love (1978) soll die Figur des Zuschauers an dieser Stelle anhand von drei Gegenpaaren diskutiert werden: Die Partizipation und die Distanz; die Position und die Situation des Zuschauers; der individuelle Standpunkt und die Teilnahme an einer (Zuschauer-) Gemeinschaft. Diese drei Paare dienen als Eckpfeiler, um die Frage nach der Subjektkonstitution des Zuschauers zu stellen.

Die Zuschauer des Squat Theatres

Die ursprünglich aus Ungarn stammende Theatergruppe Squat Theatre lässt sich 1977 in New York an der 23. Straße in einem Geschäftsraum nieder, der für die drei wichtigsten Inszenierungen Pig, Child, Fire! (1977)2, Andy Warhol’s Last Love (1978) und Mr. Dead and Mrs. Free (1981) als Spielstätte genutzt wird. Anders als der Name suggeriert, handelt es sich beim Squat Theatre nicht um Hausbesetzer, sondern um [End Page 75] moderat kritische und surrealistisch angehauchte Theaterkünstler.

Bereits in ihrer Heimatstadt Budapest hatte sich das Squat Theatre einen eigentümlichen Ort für ihre Theaterarbeit ausgesucht: eine Wohnung.3 Mit dem New Yorker Kaufladen wird dieses Experiment fortgeführt und konkretisiert, ausgefeilt und verdichtet. Die Straße wird einbezogen und mittels der Glasfront des Ladenlokals kann eine einzigartige Zuschauer-Schauspieler-Beziehung erzeugt werden: Das Spiel vollzieht sich im Geschäft und auf der Straße.4 Es handelt sich um zwei parallele Aufführungsstätten, die immer wieder zur Überlappung gebracht werden. Diese Konstellation ist für die Aufführungen des Squat Theatres charakteristisch und ermöglicht gemäß Richard Schechner, der das Squat Theater interessiert beobachtete, drei Zuschauertypen: Derjenige, der Eintritt bezahlt hat und im Geschäft als offizieller Zuschauer sitzt; derjenige, der als Passant zufälligerweise vorbeikommt und entweder in die auf der Straße gespielten Szenen verwickelt wird oder neugierig und verstohlen durch das Schaufenster die Szenerie im Laden betrachtet; letztlich derjenige, der die Aufführung im Inneren gesehen hat und nochmals kommt, um sie von der Straße aus zu sehen.5

Das Spiel selbst findet vorwiegend im Inneren des Theaterraumes statt. Vor der Fensterfront im Ladenlokal befindet sich eine leicht erhöhte Bühne, die von den Mitgliedern...

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