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  • Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts by Von Matthias Hennig
  • Monika Schmitz-Emans
Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Von Matthias Hennig. München: Fink, 2015. 275Seiten + 5 s/w Abbildungen. €39,90.

Labyrinthe sind in hohem Maße polyvalente Formen, mit so verschiedenen Vorstellungskomplexen wie etwa dem des Gefängnisses oder dem des Tanzplatzes verbunden [End Page 431] und mit Bezug auf diese Komplexe dann zudem unterschiedlich semantisiert. War der mythische Theseus einst dazu herausgefordert, im Labyrinth selbst zuerst den Minotaurus und dann den Rückweg zu finden, so besteht die primäre Herausforderung für Kultur- und Literaturhistoriker des Labyrinths darin, sich über die Fülle thematisch relevanter Phänomene, Repräsentationen, Modelle und Metaphern einen Überblick zu verschaffen und sie nach sinnvollen Kriterien zu sortieren. Die Rolle der Ariadne in diesem auf eigene Weise labyrinthischen Unternehmen ist seit den 1980er Jahren vor allem Hermann Kern zugefallen, dessen Kompendium Labyrinthe: Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds (München 1999 [1982]) eine Fülle an Beispielen für labyrinthische und mit dem Labyrinth assoziierte Strukturen, vor allem aber Rekonstruktionen zur Geschichte des Vorstellungsbildes „Labyrinth“ bietet.

Ging es bei Kern primär um (noch existierende oder auf der Basis von Abbildungen und anderen Quellen rekonstruierbare) visuell perzipierbare Gebilde im Raum oder in der Fläche sowie um deren kulturhistorische Bedeutung, so galten spätere Abhandlungen zu Labyrinthischem abstrahierend der Betrachtung von als „labyrinthisch“ apostrophierten Strukturen und ihren metaphorischen Bedeutungspotentialen. Einen wichtigen Leitfaden der Orientierung bietet hier vor allem Umberto Eco (Nachschrift zum Namen der Rose, München/Wien 1984, hier „Die Metaphysik des Kriminalromans“, 63ff.), wo Einweglabyrinth, Irrgarten und Rhizom als Modelle differenter Erkenntnisprozesse und als Indikatoren differenter Denkhorizonte („Meta-physiken“) erscheinen. Die Möglichkeiten, die Konzepte des „Labyrinthischen“ speziell der Literaturwissenschaft auf der Ebene textstruktural-narratologischer Analysen bieten, hat Manfred Schmeling mit seiner Studie Der labyrinthische Diskurs (Frankfurt am Main 1987) demonstriert. Wer sich als Literaturwissenschaftler dem Thema„Labyrinthe“ zuwendet, bewegt sich also auf einem von Spuren übersäten Tanzplatz, freilich auch auf einem in ständiger Erweiterung befindlichen, denn jüngere Romane wie etwa Mark Z. Danielewskis Roman House of Leaves (2000) belegen die anhaltende Bedeutung des Labyrinths als Stimulus literarischer Produktion. Und angesichts der unterschiedlichen Optionen, „Labyrinthe“ zu diskursivieren, kann von einer vorgegebenen Choreographie nicht die Rede sein.

Matthias Hennigs vergleichende Studie zu literarischen Umsetzungen des mit dem Stichwort „Labyrinth“ verbundenen Vorstellungskomplexes bestimmt die Frage nach der Semantik von Räumen zum Leitfaden und orientiert sich damit an Fragen, Methoden und Befunden einer topographisch-raumtheoretisch geprägten Kulturwissenschaft, verbunden mit Ansätzen und Methoden der historischen Semantik. Gegenüber der Studie Schmelings, die bereits das Geflecht von Relationen zwischen Raum und Bedeutung unter primärer Akzentuierung sprachlich-diskursiver Strukturen erörtert (vgl. Hennig 17, Anm. 27), wendet sich Hennig selbst dezidierter differenten Raumsemantiken zu, insofern sie sich anlässlich inhaltlich dargestellter Räume entfalten. Die Semantisierung („Chiffrierung“, vgl. 17) von Labyrinthen bleibe, so die Leitthese, stets verbunden mit dem, was „Labyrinthe“ zunächst sind: konkrete, dingliche Objekte, Strukturen, architektonische Formen (17). Auf der Basis dieses Ansatzes erscheint es nur konsequent, wenn die Ausführungen zu literarischen Labyrinth-Texten – zu einem breiten Korpus von Werken, die Labyrinthisches thematisieren und sich an Labyrinthformen orientieren –, nach unterschiedlichen Raumtypen gegliedert sind. Hatte Umberto Eco abstrahierend zwischen Labyrinthen von unterschiedlicher struktureller [End Page 432] Komplexität differenziert, Schmeling dann (hinsichtlich der Rezeptions- und Produktionsprozesse von Texten) mit Blick auf den antiken Labyrinthmythos unter anderem zwischen „theseischer“ und „dädalischer“ Perspektive unterschieden, so gelten Hennigs Kapitel einem Katalog von Raumerfahrungen: Analysiert werden literarische Texte über „Stadtlabyrinthe“ (Kap. 1), „Spiegellabyrinthe“ (Kap. 2), „Bibliothekslabyrinthe“ (Kap. 3), „Höhlenlabyrinthe“ (Kap. 4) und „Wüstenlabyrinthe“ (Kap. 5).

Die mit einer solchen Gliederung verbundene Perspektive auf literarische Labyrinthe erweist sich insgesamt als ergiebig für vergleichende Textanalysen; gerade die recht enge Rückbindung an konkrete Raummotive, die zudem handlungstragende Funktionen besitzen, bietet eine gute Basis entsprechender Vergleiche. Bleiben in dieser Monographie bestimmte Teilbereiche des Themenfeldes „Literatur und Labyrinth“ weitgehend ausgeblendet, insbesondere die Visualpoesie und das Spektrum mobiler und variabler Texte, so ergibt sich auch dies aus dem hier gewählten...

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