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  • Fluch des Verfahrens:Karl Kraus und der “Fall Kerr”
  • Katrin Trüstedt (bio)

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts verwickelte Karl Kraus in einer seiner berüchtigten Aktionen Alfred Kerr in ein Netz aus Rechtsverfahren, das an die Verstrickung eines mythischen Fluches erinnert. Kraus, so scheint es, hat Kerr auf spezifisch moderne Weise verflucht. Was aber heißt das? Wie wäre das moderne Rechtsverfahren zu verstehen, wenn es sich selbst als fluchartig erwiese?

Was an den Rechtsverfahren im “Fall Kerr” an einen Fluch erinnert, sind zunächst die Exzessivität und scheinbare Endlosigkeit, die den Fluch charakterisieren und die durch die Einsetzung rechtlicher Verfahren eigentlich gerade vermieden werden sollten. Die Exzessivität des Fluchs nennt Björn Quiring seine conditio sine qua non,1 seine unauflösliche Bedingung: “Die Verdammung ist zu ihrer unendlichen Wiederholung verdammt.”2 Das macht die “Unabschließbarkeit und Serienförmigkeit”3 des Fluches aus, der die in den Fluch verstrickten Subjekte bannt.4 Einer solchen Exzessivität soll das moderne Recht einer verbreiteten Erzählung zufolge gerade entgegentreten: Das moderne Recht resultiert aus der Zurückweisung und Ersetzung einer Logik der Rache. Mit René Girard kann man in diesem Sinne das Recht als Antithese des Fluchs endloser Rache verstehen.5 [End Page 701]

Aischylos’ Orestie, die “Urszene des abendländischen Rechts”,6 begründet ganz in diesem Sinne die Notwendigkeit des Rechts mit der Notwendigkeit der Überwindung des Fluches. Die Serienform der Orestie als Trilogie hebt zunächst den exzessiven Charakter des Fluchs hervor: Der erste Teil bringt durch den Mord an Agamemnon, der seinerseits bereits ein Rachemord ist, den zweiten Teil und die darin folgende Gegen-Rache hervor, die wiederum nach demselben Muster von Rache und Gegen-Rache den Ausgangspunkt für den dritten Teil schafft. Die Serienstruktur der Orestie betont so die Exzessivität des Fluches, der sich in Gestalt einer Verstrickung in Gewalt artikuliert, der aus eigenen Kräften nicht zu entkommen ist. Der Fluch liegt schon zu Beginn des ersten Teils als der Tragödie noch vorgängiger vor. Was Agamemnon zu Fall bringt, ist eben nicht allein die Rache seiner Frau für die von ihm geopferte Tochter, sondern ununterscheidbar davon die Vollstreckung des Fluches, der auf Agamemnons Geschlecht liegt. Die racheförmige Gewaltspirale vollzieht und vollstreckt den Zusammenhang des Fluches, sie artikuliert jene Form von Verstrickung und Notwendigkeit, der der Protagonist nicht entkommen kann und die darum das Prädikat des “Mythischen” verdient.7 Die Situation ist nicht aufzulösen, weil jede dieser Taten exzessiv eben jene Situation von neuem evoziert, die sie eigentlich tilgen soll. Diese Exzessivität entspricht dem mythischen “Fluchgewirk”8—die Rache selbst hat die Form des Fluchs. Durch Rache vollziehen die Handelnden ihr verfluchtes (tragisches) Schicksal, da jede Rache neue Rache gebiert.

Was an Fluch und Rache problematisch scheint, ist in dieser Lesart nicht einfach das Fehlen von Normativität.9 Auch die Blutrache, von den Erinnyen vertreten, stellt sich nicht als das Andere des Rechts und der Gerechtigkeit dar, sondern erhebt den Anspruch, eine spezifische—wenngleich fluchartig tragische—Form von Gerechtigkeit zu vollstrecken. Was das Recht überwinden soll, so schreibt Christoph Menke, ist vielmehr das Übermaß der Rache, das sich in ihrer fluchartigen Struktur manifestiert: [End Page 702]

[J]eder Racheakt, der sich gegen ein übermäßiges Handeln ‘ohne Recht’ richtet, trägt in sich ein Übermaß, das wiederum ‘ohne Recht’ ist und erneut gebrochen werden muß. Das soll das rechtsförmige Entscheiden des Gerichts beenden: Es hat aus der Gewalt und dem Leiden, das mit jeder, auch der berechtigten Rache verbunden ist, gelernt, daß der Vollzug der Gerechtigkeit eine andere, eine maßvolle Form annehmen muß. Damit soll der Fluch des Übermaßes aufhören.10

Diese maßvolle Form des Rechts soll sich nun genau in der Form des Verfahrens verwirklichen.11 Das von Athene im dritten Teil der Trilogie eingesetzte Rechtsverfahren soll den Fluch der Atriden und die Verstrickung von tragischer Gewalt unterbrechen. Damit, so die dominante Lesart, bringt die Orestie den Übergang von einer Rache-Struktur zu einem Rechtssystem auf die Bühne.12 Es sind dabei gerade die Verfahren, die anstelle des Fluches der Rache eingesetzt werden, die das Versprechen der Gerechtigkeit enthalten: Beide Seiten sollen...

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