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Reviewed by:
  • Goethes Erotica und die Weimarer “Zensoren.” by W. Daniel Wilson
  • Ehrhard Bahr
W. Daniel Wilson, Goethes Erotica und die Weimarer “Zensoren.” Hanover: Wehrhahn Verlag, 2015. 256 S.

Der Autor ist bekannt durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zur deutschen Rezeption Goethes, darunter zuletzt eine Monographie mit dem Titel Goethe Männer Knaben: Ansichten zur Homosexualität von 2012. Im vorliegenden Titel geht es um die Geschichte der Zensur der erotischen Dichtungen durch die Herausgeber, die Familie und Fürsten in Weimar. Daraus entsteht, wie der Autor herausstellt, “ein philologischer ‘Krimi’,” der nicht nur für Literaturwissenschaftler relevant ist, sondern auch für interessierte Leser. Das Ergebnis, wie Wilson im Vorwort ankündigt, ist ein “überraschend moderner Goethe—ein anderer als der, der in der Schule gelesen wird” (7). Am Ende steht die Frage, ob Goethe ein Libertin war oder nicht. Die Antwort lautet: “mal mehr, mal weniger.” Seine Herausgeber “befürchteten das Schreckbild des Libertins” und edierten [End Page 279] seine Werke dementsprechend. Mit der vorliegenden Untersuchung sollen die “Glanzstücke” seiner erotischen, libertinistischen Werke zur Anerkennung gebracht werden und zu einem liberalen Goethe-Bild beitragen (186).

Der Goethe-Forschung sind viele Probleme der Edition der Erotica bekannt, wie beispielsweise Schillers Rolle als Herausgeber der Römischen Elegien in den Horen und der Venezianischen Epigramme im Musen-Almanach für das Jahr 1796. Aber bisher sind sie nicht in diesem Umfang und mit dieser Gründlichkeit dargestellt worden. Dabei ergeben sich neue Wertungen. So wird zum Beispiel die Rolle der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar (1824–97) weitaus positiver als bisher beurteilt. Es sei zu bezweifeln, dass sie mit “Schere, Messer, Radiergummi” anstößige Stellen aus den Manuskripten der Venezianischen Epigramme entfernte (9–12). Zu ihren Lasten gehe lediglich die Vernichtung eines Goethe-Briefes an Napoleon. Sie habe ihn wahrscheinlich aus nationalistisch politischen Gründen verbrannt (16). Für das Trio der freundschaftlichen Zensoren Schiller, Herder und Großherzog Carl August prägt Wilson den Begriff einer “sanften Zensur” im Gegensatz zur staatlichen Zensur (18)—und das trotz Herders maliziöser Bemerkung, dass die Horen “nun mit dem u gedruckt werden” müssten (61).

Im Zusammenhang der Herausgabe von Goethes Nachgelassenen Werken in zwanzig Bänden untersucht Wilson die “sanfte Zensur” von Johann Peter Eckermann, Friedrich Wilhelm Riemer und Friedrich von Müller. Zu den umstrittenen Texten gehörten Das Tagebuch, ausgelassene Stücke aus den Venezianischen Epigrammen und den Römischen Elegien sowie das Personenverzeichnis zu Hanswursts Hochzeit. Kriterium für die Auswahl war die Beschützung der Würde des Dichters. Eckermann deponierte die als obszön geltenden Manuskripte, die von der Veröffentlichung ausgeschlossen waren, 1832 in der herzoglichen Bibliothek. Als Testamentsvollstrecker beanstandete Friedrich von Müller die Auswahl einiger Gedichte aus Goethes Leipziger Zeit, doch hatte er keinen entscheidenden Einfluss. Er nahm die umstrittenen Manuskripte in Verwahrung. Nach seinem Tod 1849 wurden sie erst 1863 oder 1864 in einem Kästchen auf dem Dachboden seines Hauses gefunden und Goethes Enkel Wolfgang Maximilian übergeben.

Die beiden Enkel Wolfgang und Walther waren darauf bedacht, den Ruf ihres Groẞvaters zu schützen. Dabei nimmt Wilson an, dass es Walther war, der im Manuskript der Epigramme “die Texte abschabte” (120). Auf jeden Fall fällt auf ihn der Hauptverdacht. Walther war es auch, der 1885 die Großherzogin Sophie testamentarisch als Erbin von Goethes literarischem Nachlass bestimmte und damit die juristische Grundlage für die Sophien-Ausgabe lieferte. Nach seinem Tod wurde Goethes schriftlicher Nachlass 1885 ins Schloss überführt und Gustav von Loeper zum Herausgeber der neuen Goethe-Ausgabe ernannt. Damit beginnt die Geschichte der Sophien-Ausgabe, bei der sich die Mitherausgeber mit denselben Problemen der Goetheschen Erotica konfrontiert sahen wie ihre Vorgänger: Zensur oder Nicht-Zensur. Dabei lässt sich innerhalb von Jahrzehnten eine zunehmende Liberalität feststellen, die allerdings Rücksicht auf die Ambitionen der Großherzogin zu nehmen hatte, Weimar vollends als nationales Kulturzentrum zu etablieren. Doch bereits im ersten Band von 1887 wurden im Apparat Texte der unterdrückten Elegien und Epigramme veröffentlicht. Als Nachtrag folgte Das Tagebuch in Band 5.2 von 1910. Der Werkband 53 von 1914 (ausgeliefert 1915) enthielt im Hauptteil die letzten der Secretanda und wurde...

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