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  • Die vergangene Zeit bleibt die erlittene Zeit.” Untersuchungen zum Werk von Hans Keilson ed. by Simone Schröder, Ulrike Weymann, and Andreas Martin Widmann
  • Johannes F. Evelein
“Die vergangene Zeit bleibt die erlittene Zeit.” Untersuchungen zum Werk von Hans Keilson. Edited by Simone Schröder, Ulrike Weymann, and Andreas Martin Widmann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. Pp. 295. €39.80. ISBN 978-3826049675.

Das Wort “Genie” hat in unserer Zeit der Hyperbolik um einiges an Kraft eingebüsst. Und was sind schon literarische “Meisterwerke” in einer postmodernen Zeit, die sich vor Kanonisierung zurückscheut, ja sich dagegen wehrt? Dennoch wählte die amerikanische Kritikerin Francine Prose in ihrer 2010 erschienenen Rezension zweier Werke des deutsch-niederländischen Exilschriftstellers und Psychologen Hans Keilson (1909–2011) für die New York Times (“As Darkness falls,” 5. August 2010) genau diese doch etwas abgegriffenen Bezeichnungen. Bis dahin war der damals fast einhundertjährige Keilson nahezu unbekannt. Sein Debütroman, Das Leben geht weiter, wurde bereits 1933 verboten. Auch seine 1947 erschienene Novelle Komödie in Moll blieb trotz wohlmeinender Rezensionen in den Niederlanden der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. 1959 erschien sein Roman Der Tod des Widersachers, der aber von den epochemachenden Romanen Heinrich Bölls, Billard um halb zehn, Günter Grass’ Die Blechtrommel, sowie Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob völlig überschattet wurde: eine fatale Publikationsgleichzeitigkeit. Keilsons Werke wurden zwar in andere Sprachen übersetzt und auch in Kritikerkreisen wahrgenommen, doch der große literarische Wurf gelang ihm nicht. [End Page 196]

“Wir sind die letzten,” so schrieb der Exilschriftsteller Hans Sahl in seinem bekannten gleichnamigen Gedicht, “fragt uns aus” (Die Wenigen und die Vielen, 5). Keilson ist eine herausragende Figur der deutschen Exilliteratur, bei der es sich lohnt auszufragen und deren Oeuvre eine sorgfältige und vielschichtige Analyse verdient. Den Herausgebern dieses Sammelbandes ist es gelungen, eine tiefschürfende und einfühlsame “erste eigenständige Publikation” vorzulegen, “die sich ausschließlich Keilsons literarischem Schaffen widmet” (24). Die insgesamt achtzehn Beiträge schaffen ein vielseitiges Bild von Keilsons Prosa, Lyrik, Essays und Autobiografie, erörtern die Rezeption seiner Werke und stellen Verbindungen zwischen Keilsons schriftstellerischem Oeuvre und seinen Aktivitäten im Bereich der Psychologie, Psychoanalyse und Traumatologie her. Keilsons Witwe, Marita Keilson-Lauritz, schließt den Band mit einer vorläufigen Sichtung des Nachlasses ihres 2011 verstorbenen Mannes.

In Keilsons literarischem Werk atme eine andere, ältere Zeit, so Damion Searls: “He is not ‘modern’” (259). So ganz mag das nicht stimmen, vor allem in Anbetracht der verschiedenen Beiträge über eines der wichtigsten Themen bei Keilson, nämlich die Grenzen der Sprache, des Sagbaren und Schreibbaren, in der Konfrontation mit der Shoah-Erfahrung. Keilson ist modern in seiner Problematisierung der sich sprachlich gestalteten Erinnerungsarbeit, die obwohl notwendig sich als unmöglich erweist. Im Kontext der Shoah fehlt der Wortbezug und die Sprache erreicht ihr Ende. Genau in diesem Spannungsbereich zwischen Noch-Sagbarem, Nicht-mehr-Sagbarem und Sprachtasten ist das Werk von Keilson angesiedelt.

Heinrich Detering und Helmut Grugger befassen sich insbesondere mit der Semantisierung des Schweigens in Bezugnahme auf Keilsons Essay “Wohin die Sprache nicht reicht” (Psyche, 38.10 [1984]) und seine narrativen Strategien in Der Tod des Widersachers und Komödie in Möll, die das Schweigen zur Stilfigur gestalten. Anhand von genauen Textanalysen wird dargestellt, wie Ellipsen, Satzabbrüche, Pausen und Aussparungen sich zu einer Rhetorik der Sprachunmöglichkeit verdichten, die aber gleichzeitig das intersubjektive Kommunikationspotenzial des Schweigens selbst betont. Die Stille bei Keilson ist laut, ist aber auch eine Suche nach Ausdruck. Somit sind seine Werke utopistisch, der Suche nach Sprache verpflichtet. Helmut Grugger verknüpft die Sprachproblematik im literarischen Werk Keilsons mit dessen therapeutischer Arbeit, insbesondere in seiner Begegnung mit dem aus Bergen-Belsen zurückgekehrten zwölfjährigen Esra, die in ein beiderseitiges Schweigen mündete.

Keilsons erster Roman ist auktorial-erzählerisch tatsächlich recht konventionell. In ihren Analysen erschließen Walter Fähnders, Helga Karrenbrock und Maren Lickhardt den Text als Generations- und Verfallsroman der ausgehenden Weimarer Republik, Bühne der Demontage des Bürgers und Schwelle in eine neue, gefährliche Zeit. Lickhardts Lektüre der Geschlechterrollen im Roman verknüpft die von ihr beobachtete erodierende Männlichkeit, im Familienleben des Erz...

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