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  • “Er hatte einen entschiedenen Hang zur Intrige”:Überlegungen zu J. M. R. Lenz, seiner Rezeption und seinen Werken
  • Inge Stephan

Lenz als Intrigant

In der Rezeption des Autors Lenz und seiner Werke stehen sich noch immer zwei Sichtweisen unversöhnlich gegenüber, die ihren Ursprung in unterschiedlichen literarischen Texten haben. Mit seiner Erzählung Lenz (posthum 1839) entwarf Büchner ein sensibles Porträt von dem damals weitgehend vergessenen Autor, während Goethe in Dichtung und Wahrheit (1812) ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen literarischen Weggenossen gefällt hatte. Goethe konnte sich als letzter noch lebender ‘Zeitzeuge’ des bereits 1792 Verstorbenen auf eine intime Kenntnis des Autors stützen, Büchner als ‘Nachgeborener’ kannte Lenz nur vom Hörensagen im Freundeskreis und aus der Lektüre seiner Werke, die Ludwig Tieck 1828 herausgegeben hatte. Diese beiden Erinnerungstexte—hier die ästhetisch wegweisende Novelle, dort die rückwärtsgewandten autobiographischen Aufzeichnungen—haben zwei konträre Rezeptionslinien begründet: Auf der einen Seite steht der geniale Außenseiter, dem Büchner mit seinem Schlüsseltext der literarischen Moderne ein so beeindruckendes Denkmal gesetzt hat, dass der historische Autor dahinter lange Zeit zu verschwinden drohte. Auf der anderen Seite steht der possenhafte Nachahmer, der nach einem on-dit von Karl August von Weimar nur der ‘Affe’ von Goethe gewesen sei und dessen Werke deshalb die Lektüre nicht lohnten, wie die ältere germanistische Forschung nicht müde wurde zu behaupten. In der Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1843) von Georg Gottfried Gervinus ist Lenz ein Autor, der sich selbst überschätzt hat:

Die Freundschaft mit Göthe riß ihn in den größten Dünkel und in einen blinden Wetteifer, um so mehr, je anerkannter in Göthe’s Kreise sein Genie war; und je geringer später seine Leistungen, je größer Göthe’s Ruhm ward, desto mehr mußte sich seine Rivalität zu Neid und Bosheit steigern […] oder […] zur Selbstverachtung zurücksinken.1

Noch weiter geht Adolf Bartels in seiner Geschichte der deutschen Literatur (1909), wo der Leserschaft ein ähnlich unrühmliches Ende wie dem Autor prophezeit wird: [End Page 247]

Aber wehe dem, der den wirklichen Unterschied zwischen einem Goethe und einem Lenz nicht sieht oder nicht sehen will, der auf Rechnung des Glücks zu setzen sich erdreistet, was die Natur von Anbeginn bestimmt hat und sittlicher Wille vollendet! Auch er wird zu Grunde gehen, wie Lenz zu Grunde ging […].2

Auch wenn diese Art der Pathologisierung von Lenz und seinen Leser/innen sowie die skandalöse Abwertung seiner Werke in der neueren Forschung3 überwunden ist, so bildet die Konstellation zwischen den beiden Autoren doch noch immer ein Deutungsmuster, dem auch Lenz-Interpreten schwer entkommen können. Verantwortlich dafür ist eben die Passage in Dichtung und Wahrheit, mit der Goethe Lenz aus dem Gedächtnis der Nachwelt tilgen wollte und die hier als ‘Keimzelle’ vieler späterer Urteile zitiert werden muss:

Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz, ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme, nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das, zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in e i n e m Begriff zusammenfaßt.4

In seinem Buch … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts (1983) hat Peter von Matt darauf hingewiesen, dass es sich um ein im hohen Grade tendenziöses Bildnis handelt: “Lenz wird unentwegt verkleinert und effeminiert. Er verringert sich förmlich vor den Augen des Lesers.”5 Auch wenn es von Matt nicht darum geht, “die Ranküne Goethes gegen Lenz im Detail zu analysieren” (Matt, Angesicht 91) und er einräumt, dass dieser durch sein Verhalten durchaus Anlass zu dem verzerrenden Charakterbild abgegeben haben könnte, ist ihm die “mitleidslose Scheingerechtigkeit des...

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