In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

  • Goethe und die moderne Zivilisation
  • Gernot Böhme

Was ist das Moderne an der Zivilisation?

Es hat im Deutschen seit dem 19. Jahrhundert eine unglückliche Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation gegeben. Das hatte seinen Grund in der Auseinandersetzung mit Frankreich und dem Misslingen einer Revolution in Deutschland, die nach dem Vorbild der französischen Revolution die Überwindung des Ancien Régime, also der feudalistischen Herrschaftsordnung gebracht hätte. Das nationale Selbstbewusstsein in Deutschland bildete sich infolgedessen im Stolz auf die Kultur, worunter man vor allem Musik, Literatur und Bildung verstand. Davon wurde Zivilisation abgesetzt als die äußerliche Regelung des Lebens durch Politik, Gesellschaftsordnung und Wirtschaft. Obgleich diese Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation mit guten Gründen kritisiert wurde, möchte ich hier von ihr ausgehen, zumal sie wohl auch der Goethe’schen Perspektive angemessen ist.1

Goethe lebte nicht in der modernen Zivilisation. Er war ein konservativer Gegner von Revolutionen und er war als Beamter des Weimarer Staates dem Feudalsystem treu verbunden. Er beobachtete jedoch mit äußerster Sensibilität, was er an moderner Zivilisation außerhalb Deutschlands wahrnehmen konnte und was sich bereits zu seinen Lebzeiten auch in Deutschland abzeichnete. Diese Moderne nahm er eher als Bedrohung wahr, eine Wahrnehmung, die gleichwohl bei ihm auch den Blick auf das Bestehende, also auf die traditionellen Lebensformen veränderte. Wenn man aus dieser Verbindung von Kritik und veränderter Sichtweise Goethe zum Autor einer anderen Moderne stilisieren will, so stützt sich diese These fast ausschließlich auf seinen Gedanken einer universalen Literatur,2 also einen Bereich, der als kultureller von unserer Betrachtung gerade ausgeschlossen wird.

Es wäre natürlich wünschenswert, für diese Betrachtung einen expliziten Begriff von moderner Zivilisation voraussetzen zu können. Da ein solcher Begriff fehlt, werden wir umgekehrt verfahren, d.h. aus Goethes kritischer Wahrnehmung traditioneller Lebensverhältnisse Grundzüge moderner Zivilisation entwickeln. Damit ergeben sich folgende Themen, die hier einlei-tend skizziert seien:

1. Die imaginäre Gesellschaft

Es entsteht ein Bewusstsein, nach dem die gesellschaftlichen Verhältnisse und der Status des Einzelnen von den konsentierten Vorstellungen aller Gesellschaftsmitglieder abhängen. Gesellschaftliche Verhältnisse werden [End Page 133] nicht mehr als natur- oder gottgegeben akzeptiert. Man kann das auch Entsubstanzialisierung nennen.

2. Geldpolitik

Mit der Erfindung des Papiergeldes entsteht ein abstrakter Markt, aber auch eine staatliche Wirtschaftspolitik, die schließlich zum Keynesianismus führen sollte. Die staatliche Regelung der Geldverhältnisse ist ein erstes Beispiel für das, was man im Englischen policy nennt, d.h. strategisches Handeln des Staates gegenüber der Gesellschaft.

3. Künstliche Natur

Der strikte Gegensatz von Natur und Kultur, Natur und Zivilisation, griechisch physis und nomos, wird aufgehoben, bzw. die Grenze dieser Bereiche wird verschiebbar. Natur wird nicht mehr als das Gegebene hingenommen, sondern wird tendenziell machbar.

4. Technische Zivilisation

Natur ist folglich nicht mehr gegebene Grundlage menschlicher Lebensverhältnisse, vielmehr wird Naturbeherrschung deren Basis. Emanzipation von der Natur führt tendenziell zu einem Leben nach Plan auf der Basis von Ausbeutungsverhältnissen.

Diese Themen werden im Folgenden vornehmlich mit Blick auf Goethes Faust-Drama3 entwickelt, nicht nur, weil Goethe selbst entsprechende Überlegungen hier am eindringlichsten dargestellt hat, sondern auch weil ich diesen Überlegungen in meinem Buch Goethes Faust als philosophischer Text im Detail nachgegangen bin, sodass ich mich für diese kurze Darstellung immer wieder darauf berufen kann.4

Die imaginäre Gesellschaft (Mummenschanz)

Der Zwischentitel ist dem Buch des griechisch-französischen Sozialphilosophen Cornelius Castoriadis entliehen, der die Gesellschaft als imaginäre Institution dargestellt hat.5 Castoriadis arbeitet heraus, dass die moderne Gesellschaft sich durch die Vorstellungen ihrer Mitglieder konstituiert, d.h. durch die gegenseitigen Zuschreibungen und Anerkennungsverhältnisse. Hierarchien, gesellschaftlicher Status, Verhaltensweisen hängen von dem Glauben der Teilnehmer der Gesellschaft ab. Das war auch prinzipiell für traditionale Gesellschaften der Fall, nur dass für sie der Glaube gerade darin bestand, dass gesellschaftliche Verhältnisse substanziell seien, d.h. also ihren Grund in der Natur, in der Sache oder in Gott hätten. Herrschaftsverhältnisse wurden auf Gottesgnadentum zurückgeführt. Die Moral bestand in substanzieller Sittlichkeit.6 Die Zugehörigkeit eines Menschen zur Gesellschaft war durch seinen Stand—nicht etwa durch seinen Beruf—bestimmt. In Goethes Faust...

pdf

Share