In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918 by Dorothee Wierling
  • Peter Beicken
Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918. By Dorothee Wierling. Göttingen: Wallstein, 2013. Pp. 415. Cloth €24.90. ISBN 978-3835313019.

Während des ersten Weltkrieges schrieben sich die Mitglieder der prominenten Familie Braun—die Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Lily (1865–1916), der sozialdemokratische Publizist Heinrich (1854–1927), ihr als Wunderkind verehrter Sohn Otto (1897–1918) und die Freundin der Familie, die Kunsthistorikerin Julie Vogelstein (1883–1971)—etwa 2000 Briefe. Aufgrund dieser umfänglichen Korrespondenz zusammen mit Tagebüchern sowie literarischen und politischen Schriften versucht Dorothee Wierling, bei der Geschichte dieser Familie vor dem Hintergrund der Urkatastrophe facettenreich darzustellen, “wie der Krieg in das Leben von Menschen einbrach, die ihn nicht erwartet oder ersehnt hatten, ihn aber dennoch freudig annahmen” (8).

Die Geschichte der Vier ist ungewöhnlich, faszinierend, nahegehend, verwunderlich, befremdend, gelegentlich bizarr. In zehn Kapitel kommentierender Erzählung, in der die reichlich zitierten Quellen einverwoben sind, geht es vom Kriegsanfang bis zu Ottos Tod im April 1918, als ihn eine Granate an der Westfront in Fetzen riss. Wierling endet die Erzählung mit dem Schlusskapitel “Die (allwissende) Erzählerin” über Julie Vogelsteins, die 1914 zunächst Freundin der Familie wurde und in einer engen, “überschwänglichen” (37) Beziehung zu Lily stand. Zugleich aber verliebte sie sich in Heinrich, der sie als seine Geliebte annahm und sie 1920 heiratete, nachdem Lily 1916 einem Schlaganfall erlegen war. Julie hat in Auswahl nicht nur Ottos Gedichte, Tagebücher, Briefe und Szenen in den bemerkenswerten, viel Anklang findenden Aus Nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten postum (1919) herausgegeben, sondern auch Bücher über Lily und Heinrich geschrieben. Die Briefe nahm sie mit ins Exil und übergab sie dem Leo Baeck Institut, wo Wierling bei Forschungen über Lilys sozialdemokratische Dienstbotenbewegung auf diesen Fundus stieß.

Wierling gibt dem Untertitel folgend ein lebhaftes, auch kritisch reflektiertes Erzählbild vom “Leben, Sterben und Schreiben,” der vier Einzelfiguren, deren “inniges miteinander Verwurzeltsein” (13) der frühreife Otto hervorhob. Nach umrisshaften Charaktersierungen der Vier folgen die eigentlichen Handlungskapitel. Grad erst siebzehnjährig meldet sich Otto im Zeichen der ihn mitreißenden kollektiven Kriegsbegeisterung freiwillig, vom Vater zunächst nicht unterstützt, wohl aber von der Mutter und dazu von einflussreichen Familienfreunden dem Militär anempfohlen. Mit Erfolg. In ähnlicher Weise hat die mit den Brauns befreundete Käthe Kollwitz ihren Sohn Peter ebenfalls bei seiner Freiwilligenmeldung unterstützt und ihren davon gar nicht erbauten Mann dazu gebracht, seine offiziell notwendige Einwilligung als Vater eines Minderjährigen zu geben, der schon im Herbst 1914 in Belgien fiel. Der kriegsbegeisterte, vollauf deutschtümelnd-patriotische Otto, der [End Page 428] trotz seines jüdischen Vaters stark antisemitisch war, empfand nach langer Zeit der Ausbildung und des Wartens im Schützengraben endlich “dies unnennbare Gefühl des Rausches” als “entzückend” und “so wunderbar schön, schön, schön, trotz des Grauenhaften.” So wurde sein “Schützengrabenbrief” zu Hause, besonders von den Damen, als eine erhebende Botschaft verehrt.

Der Enthusiast Otto ist Fokus der mitfühlenden und auch besorgten Familiengemüter, etwa der kränkelnden Mutter, die seit Kriegsbeginn von ihrem Florentiner Geliebten Tancredi abgeschnitten ist. Als populäre und gut bezahlte Rednerin über den Krieg und die Frauen, die sie vorwiegend auf das Mütterliche reduzierte, versuchte sie die zerrütteten Finanzen aufzubessern. Zugleich propagierte sie 1915 in Vorträgen das schon zum Klischee erstarrte Thema Der Krieg als Erzieher und publizierte einen genrehaften Roman, Der Lebenssucher, der beim Erscheinen 1915 “ein großer Erfolg” (93) wurde. Ihr Mann Heinrich äußerte seine Sorgen um Otto pragmatischer, indem er dem Sohn, der über das im Militär übliche Saufen klagte, praktische Winke gab, wie er übermäßiges Trinken und etwaige negative Folgen vermeiden könne. Julia, griechischer Kunst ergeben, zelebrierte Otto, der sich jugendstilhaft nackt auf dem Pferde (193) stilisierte, und stellte ihn pathetisch den Reitern auf den Parthenonfriesen gleich (68). Überladen ästhetisierend sind diese Verherrlichungen des Kriegerischen, nicht minder schwülstig Julias Liebeserklärungen an Heinrich.

Geschickt Selbstaussagen dieser Vier einmontierend in ihre detailliert erzählende Darstellung, bietet Wierling einfühlsam und distanziert, nachempfindend und urteilssicher kommentierend eine faszinierende Innenschau...

pdf

Share