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  • Angst aus der Perspektive der Psychologie bei Arthur Schnitzler und Christa Wolf by Ivett Rita Guntersdorfer
  • Walter Tschacher
Ivett Rita Guntersdorfer, Angst aus der Perspektive der Psychologie bei Arthur Schnitzler und Christa Wolf. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2013. 303 S.

Die Autorin bezeichnet Angst als “das Leitwort in unserer westlichen Industriegesellschaft” (8), das jedoch bisher relativ selten untersucht worden sei. Es ist also nur konsequent zu prüfen, inwieweit diese Tatsache auch in der Literatur ihren Ausdruck findet. Demonstriert wird das Thema Angst bzw. Angstbewältigung am Beispiel ausgewählter Werke Arthur Schnitzlers und Christa Wolfs. Oberflächlich betrachtet scheint beide Autoren nichts miteinander zu verbinden. Der Fin-de-siécle-Autor Schnitzler konzentriert sich auf die Darstellung seelischer Prozesse, während Christa Wolfs Schwerpunkt auf der Darstellung der Spannungen zwischen Individuum und sozialistischer Gesellschaft liegt. Guntersdorfer sieht allerdings in den Werken beider Autoren Gemeinsamkeiten bei der jeweiligen Thematisierung von Angst.

Das 2. Kapitel (“Angst in der Literatur”) gibt einen knappen Überlick über Angst in fiktionaler Literatur seit dem 18. Jahrhundert, während Kapitel 3 (“Angst im Spiegel der Psychologie und Biologie”) sehr ausführlich auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Angst eingeht. Die Autorin betont, dass das Phänomen Angst interdisziplinär untersucht werden müsse, aber sowohl zwischen als auch innerhalb der verschiedenen Disziplinen keine Einigkeit über den Begriff Angst herrsche. Freud z.B., der Grundlegendes über die Angst veröffentlicht hatte, korrigierte später wieder einige seiner Ansätze. Guntersdorfer stellt zahlreiche natur- und sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethoden vor, die einem Literaturwissenschaftler zur Textinterpretation zur Verfügung [End Page 141] stehen. Die Autorin bezieht sich in ihren Analysen hauptsächlich auf Richard Lazarus, der “eine ausführliche Theorie der Stress- und Angstverarbeitung” (33) entwickelt hat. Nach Lazarus handelt es ich bei der Angst um die Folge einer Störung des Organismus, die jedes Individuum auf andere Weise bewältigt. Nach diesem Untersuchungsmodell kann Angst allerdings auch positive Auswirkungen haben. Angst stellt, vereinfacht ausgedrückt, eine von drei Möglichkeiten dar, auf unangenehme Situationen zu reagieren, und zwar dann, wenn das Individuum sich dieser Situation gegenüber als hilflos empfindet. Die zwei anderen Reaktionen sind Angriff und Flucht.

Ohne Zweifel haben psychologische Zugänge zu einem besseren Textverständnis beigetragen. Wünschenswert wäre es jedoch auch gewesen, die möglichen Grenzen der einmal gewählten psychologischen Vorgehensweise genauer zu bestimmen. Seit jeher wird die psychologische Methode mit dem Problem konfrontiert, dass sie es nicht mit wirklichen Individuen, sondern fiktiven Personen zu tun hat. Freud selbst glaubte, dass Psychoanalytiker und Dichter “wahrscheinlich aus der gleichen Quelle” (Freud in: Der Wahn und die Träume, 1907) schöpften, d.h. sich ergänzten. Nicht nur konnte er psychoanalytische Methoden auf Literatur und Kunst anwenden, sondern umgekehrt auch Erkenntnisse der Literatur auf psychische Probleme seiner Patienten beziehen. Psychologie und Psychoanalye erzielen vor allem dann substantielle Erkenntnisse, wenn es zu einer Kommunikation zwischen Analytiker und Patienten kommt. In der Literatur ist diese Kommunikation nicht möglich, die fiktive Person bleibt stumm und lebt nur von dem, was ihr der Autor von Anfang an eingeschrieben hat. Die Identität von fiktiver und wirklicher Person ist also nicht selbstverständlich und sollte von Interpreten, die von einer solchen Identität ausgehen, genauer begründet werden. Muss man, wie etwa bei Schnitzler, auch berücksichtigen, dass ein Mann Frauengestalten geschaffen hat. Erlaubt ein Text, der bewusst biographische Erfahrungen verarbeitet, mehr Rückschlüsse auf den Autor/die Autorin, als auf die fiktive Figur, der diese Erfahrungen zugeschrieben werden? Derartige Fragestellungen implizieren nicht, dass psychologische oder psychoanalytische Methoden unzulässig sind, sondern sollen lediglich klarstellen, dass sie auf solche Probleme eingehen müssten.

“Schnitzler war ein angstgeplagter Mensch” (55). Dafür waren einerseits die gesellschaftlich-politischen Umbrüche seiner Zeit verantwortlich, die viele Menschen verunsicherten, andererseits individuelle Veranlagung und Entwicklung. Schnitzler spricht in seinen Werken “mit der Stimme eines Arztes [End Page 142] und eines Dichter-Psychologen” (68), der seine literarischen Figuren mit Eigenschaften ausstattet, die für eine psychologische Interpretation besonders ergiebig sind. Guntersdorfer analysiert die folgenden Werke Schnitzlers: Sterben, Der einsame Weg, Die Toten schweigen, Leutnant Gustl, Fräulein Else, Flucht in die Finsternis, die verschiedene Variationen von Angst und Angstbewältigung...

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