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  • “Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.” Zu Funktion und Bedeutung typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa by Von Thomas Nehrlich
  • Bernd Fischer
“Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.” Zu Funktion und Bedeutung typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa.
Von Thomas Nehrlich. Hildesheim: Olms, 2012. 200Seiten. €24,80.

Thomas Nehrlich versucht anhand von Kleists Prosa die These zu belegen, dass Schriftbild und Textgestalt eine Bedeutungsebene bilden und zum Sinn der Texte beitragen. Da aus Kleists Korrespondenz hervorgeht, dass er aktiv an der Gestaltung der zweibändigen Buchausgabe seiner Erzählungen von 1810/11 mitgearbeitet hat, geht Nehrlich davon aus, dass dieser Druck in Bezug auf die Autorintention als relativ verlässlich gelten kann. Angemerkt sei, dass Nehrlich die beiden Bände 2011 mit einem Verzeichnis der Setzfehler neu herausgegeben hat. Damit sind wir bereits in medias res. Denn die Abgrenzung potentieller Setzfehler von autorspezifischen typographischen Textmerkmalen ist natürlich eine so notwendige wie bisweilen schwierige Voraussetzung bei der Auswahl analysesemantischer Kriterien.

Nehrlich stellt drei typographische Merkmale ins Zentrum seiner Untersuchung: den Sperrsatz, die Anführung und den Gedankenstrich. Damit wird freilich eines der interessanten Merkmale der Kleist’schen Prosa, nämlich die bisweilen exzessive Verwendung des Kommas (gelegentlich auch des Strichpunkts und Doppelpunkts) ausgespart. Der eigentlichen Untersuchung stellt Nehrlich eine so kurze wie gescheite Einführung in die Typographie voraus und diskutiert typographische Konventionen und Grenzfälle und die daraus resultierenden Schwierigkeiten, das Schriftbild bei der Textinterpretation systematisch zu berücksichtigen, also typographische Merkmale als semantische Merkmale auszuwerten. Dazu bedarf es laut Nehrlich einer Hermeneutik der Typographie, die sich wegen der weitgehenden Unabhängigkeit fiktionaler Literatur [End Page 703] von orthotypographischen Regelvorgaben auf die Berücksichtigung des Textumfeldes stützen muss. Der Text etabliert seine eigenen typographischen Konventionen, so dass (in Anlehnung an Emil Staigers hermeneutischen Zirkel, wie ich vermute) eine Teil-Ganzes-Relation zur Anwendung kommen kann. Das gilt freilich nicht für einmalige Verwendungen typographischer Verfahren, die die Interpretation vor größere Probleme stellen und laut Nehrlich einzig durch semantische Kontextualisierung im engen Textumfeld—durch die Verbindung von lexikalischer und typographischer Ebene (jetzt in einem kleinen hermeneutischen Zirkel)—gelöst werden kann. Dem kann man zustimmen, semantische Kontextualisierungen lassen sich aber auch bei der Untersuchung texttypischer Typographien (d.h. spezifischer Verwendungsweisen, die über den Gesamttext verteilt beobachtet werden können) kaum umgehen und sind letztlich Grundlage jeder Interpretation des Schriftbildes.

Nach einigen interessanten Beispielen zur spezifischen Typographie der Fraktur, in der Kleists Erzählbände gedruckt sind, beginnt die eigentliche Untersuchung mit der Vielfalt des Sperrsatzes in Kleists Prosa: Betonung, Kontrast, Eigennamen, und Identität/Erkenntnis (Colino/Nicolo im “Findling”). Es folgt ein Kapitel über Kleists Gebrauch des Anführungszeichens: Sprechertrennung, unvollständige Anführung, Macht der Rede (z. B. Befehl/Gehorsam), Affekt, Lüge, Authentifizierung, erzählte Rede und zitierte Schrift. Wirklich überraschend ist die Berücksichtigung punktueller Funktionen dieser Satzzeichen für die Interpretation der Textstellen nicht. Andererseits vermittelt die konzentrierte Diskussion der unterschiedlichen Verwendungsweisen durchaus einen zusätzlichen Eindruck von der Breite und zugleich immer wieder leicht erkennbaren Spezifik des Kleist’schen Erzählstils.

Der dritte Untersuchungsgegenstand, Kleists Gedankenstrich, nimmt für Nehrlich einen Sonderstatus ein. Er ist zu Kleists Zeit sehr beliebt und kommt auch bei ihm sehr häufig vor, wobei die meisten Gedankenstriche eher struktureller Natur sind, weil sie laut Nehrlich eine gliedernde oder ordnende Funktion übernehmen, während ein kleinerer Teil semantischer Natur ist. Der Gedankenstrich in der “Marquise von O. . .” fällt für Nehrlich aus diesem Raster und nimmt in jeder Beziehung eine Sonderstellung ein. Zu den strukturellen Funktionen des Gedankenstrichs zählt Nehrlich Sprechertrennung, Zeit und Perspektive. Als Beispiel eines Gedankenstrichs mit semantischer Funktion (insoweit strukturelle und semantische Funktion sich hier überhaupt streng trennen lassen) untersucht Nehrlich die Verwendung des mimetischen Gedankenstrichs. Er übernimmt keine gliedernde oder ordnende Funktion im Aufbau der Erzählung, sondern bekommt in der Unterstützung der lexikalischen Textaussage eine autonome Bedeutung, z. B. wenn er bei der Wiedergabe von Gesprächssequenzen signifiziert, dass die Figuren einander ins Wort fallen. Die mimetische Funktion besteht in diesem Fall darin, dass der Gedankenstrich anzeigt, dass ein Sprecher seine Rede nicht zu Ende bringen kann. Ein anderes Beispiel, das Nehrlich anführt...

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