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  • Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren—Nachfahrten—Revisionen by Herausgegeben von Hansjörg Bay, Wolfgang Struck
  • Reinhard M. Möller
Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren—Nachfahrten—Revisionen.
Herausgegeben von Hansjörg Bay und Wolfgang Struck. Wien: Böhlau, 2012. 376Seiten + 22 s/w Abbildungen. €49,90.

Der Sammelband vereint 20 Beiträge zu einem produktiven Motiv und Formprinzip der Literatur-, Kunst- und Filmgeschichte der Moderne mit historischem Schwerpunkt auf Werken des 19. und 20. Jahrhunderts sowie der Gegenwartskünste. Anknüpfend an Hans Blumenbergs grundlegende Studie über den Prozess der theoretischen Neugierde betonen die Herausgeber den transgressiven Charakter neuzeitlicher curiositas, welche “die Entdeckungsreise zum Paradigma neuzeitlicher Erkenntnis” (11) und moderner Konzeptionen ästhetischer Erfahrung schlechthin habe werden lassen. Solche Ideale und “mythischen Wissenskonfigurationen” des radikal Neuen werden in diesem Zusammenhang grundsätzlich mit einem “imperiale[n] Begehren” (11) identifiziert, das durch literarische Inszenierungen sowohl reproduziert als auch “produziert” wird, und vor diesem Hintergrund mit der Entfaltung eines imperialen Kolonialismus im Verlauf der Neuzeit in enger Verbindung steht. Das Streben nach der “Überschreitung letzter Grenzen” territorialer ebenso wie ästhetischer oder epistemologischer Art ziele auf eine Destabilisierung bestehender Ordnungssysteme durch das außerhalb liegende Fremde und gleichzeitig auf dessen aneignende Integration in diese Ordnungssysteme. Die Kehrseite dieses zwiespältigen Impulses bestehe in einer immer schnelleren Abnutzung des Neuheitseffektes im Zuge der fortschreitenden Erfassung und Kartierung bestehender geographischer, kognitiver und ästhetischer Gebiete.

Vor diesem Hintergrund konstatieren Bay und Struck, dass ein solches Transgressionsparadigma spätestens ab 1900 schrittweise an Konjunktur verliere, da die Hoffnung, radikal unbekannte Räume und Phänomene zu finden, angesichts der zunehmenden Beseitigung ‘weißer Flecken’ auf den Landkarten geopolitischer Machtansprüche ebenso wie der Wissenschaften und der Künste immer öfter enttäuscht werden müsse. Das latente Bewusstsein hiervon bedinge einen “ebenso verzweifelten wie paradoxen Wettlauf” nach der Entdeckung und Inbesitznahme vermeintlich noch unberührter “Extremräume[]”(11), zu denen einerseits Naturräume wie “Polarregionen und die höchsten Gebirge,” andererseits—im Sinne eines klassischen kolonialen Phantasmas auf Erschließung wartender “jungfräuliche[r]” (12) Gebiete—die letzten noch nicht in koloniale Einflusssphären eingeordneten Territorien zählten. Der korrespondierende Wunsch, aus dem Kreislauf bzw. der “Totschlägerreihe (Kafka)” unzähliger historisch vorgeprägter “Nach-Fahr(t)en” und intertextuell vorbestimmter “Vor-Schriften” (12) auszubrechen, werde auch auf ästhetischer Ebene nahezu [End Page 690] zwangsläufig enttäuscht: Angestrebte Neuheit entpuppt sich immer wieder als (zwanghafte) Wiederholung. Während der Band einerseits darauf abzielt, entsprechende politische, ästhetische und epistemische Mythen sowie rhetorisch-literarische Topoi durch genaue Studien und Lektüren zu dekonstruieren, macht er andererseits das Potenzial einer Um- und Überschreibung entsprechender Figurationen für eine Kritik dieser Mythen deutlich.

Die Beiträge im ersten Abschnitt des Bandes thematisieren unter dem Stichwort “Über die letzte Grenze” exemplarische (Anti-)Figurationen der Entdeckung des radikal Neuen, und zwar in literarischen Texten von Dante über Poe und Jules Verne bis zu Arno Schmidt (Bettine Menke), in filmischen Umsetzungen der Polarexpedition Salomon August Andrées von 1897 (Wolfgang Struck), aber auch in August Petermanns Kartographierung des Nordpols Mitte des 19. Jahrhunderts (Philipp Felsch) oder in Christoph Ransmayrs Versepos Der fliegende Berg (Sabine Frost). Als eine Leitthese der Lektüren, die den Konstruktionscharakter entsprechender ästhetisch-geographischer ‘Polarphantasien’ betonen, kann die Feststellung Bettine Menkes gelten, wonach die Idee der “Grenz-Überschreitung, die das Modell der Entdeckung, der Primarität und ihrer Unwiderruflichkeit gibt, [ . . . ] als ‘wiederholbares, wenigstens imitierbares Paradigma’ aufgefasst werden [solle]” (25).

Der zweite Abschnitt präsentiert “Vorschriften, Nachfahren und Relektüren” kolonial kontextualisierter Entdeckungsreisen in literarischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Werk des malischen Autors Yambo Ouologuem. Hierbei identifiziert Mitherausgeber Bay ein typisches Paradigma der Selbstinszenierung europäischer Reisender, das in post-kolonialen bzw. kolonialismuskritisch orientierten Reisetexten einer “Revision” unterzogen werden könne: “In den Expeditionsberichten präsentieren sich die als Ich-Erzähler auftretenden Protagonisten als Abgesandte und Vorreiter einer überlegenen Zivilisation, die es unter den erschwerten Bedingungen der Forschungsreise gegen eine wenig zivilisierte Umgebung zu bewahren und durchzusetzen gilt” (110).

In Ouologuems “intertextuelle[m] Spiel mit kolonialen und antikolonialen Bildern” (David Simo), aber auch in Texten wie dem von John Noyes diskutierten Roman Im Kongo von Urs Widmer werde durch Relektüren “das Traumhafte der diskursiven...

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