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Reviewed by:
  • Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur by Joachim Rickes
  • Stefan Kutzenberger
Joachim Rickes, Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012. 143 S.

“I have written a Latin American novel about Germans and German classicism” (Luke Harding: “Unlikely bestseller heralds the return of lightness [End Page 123] and humour to German literature,” The Guardian, 19 Jul. 2006), meinte Daniel Kehlmann in einem Interview mit dem Guardian über seinen Überraschungserfolg Die Vermessung der Welt. Dass Kehlmanns Schreiben mehr der lateinamerikanischen Literatur schuldet als der deutschsprachigen, wiederholte der Autor auch anderorts, sodass es nicht verwundert, dass der Berliner Germanist Joachim Rickes diesem Einfluss in seiner Studie Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur, vor allem durch “close reading” (24), genauer nachzugehen versuchte. Auch wenn Einfluss eine “notorisch unklare Kategorie” (25) ist, lässt sich über Einflüsse “vergleichsweise leicht sprechen und schreiben” (123), resumiert Rickes, ohne auf die komparatistischen Kategorien eines genetischen oder typologischen Vergleichs einzugehen, ohne also untersucht zu haben, ob Kehlmann die in Frage kommenden lateinamerikanischen Autoren tatsächlich gelesen hat oder ob es sich um eine zufällige, strukturelle Ähnlichkeit handelt. Da Rickes den deutsch-österreichischen Autor jedoch in seine dem Buch zugrunde liegende Lehrveranstaltung eingeladen hat (2011 am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten), ist anzunehmen, dass diese Frage dort bereits geklärt wurde.

Eindeutig ist der Einfluss, den Gabriel García Márquez’ Roman Hundert Jahre Einsamkeit auf Kehlmann und insbesondere auf Die Vermessung der Welt ausgeübt hat, was sich einerseits an den magischen Einschüben im Roman sehen lässt, andererseits auch im 2011 erschienenen Essay mit dem Titel “Das Wunder des Erzählens” (In: Sinn und Form 1 (2011): 65–77). Rickes geht diesem Einfluss auch ansatzweise nach, um dann zu schließen: “Die vielfältigen Bezüge zwischen Die Vermessung der Welt und Hundert Jahre Einsamkeit wären eine eigene Untersuchung wert” (93). Diesem ist voll zuzustimmen, es bleibt jedoch unbeantwortet, ob es im Werk Kehlmanns darüber hinaus untersuchenswerte Bezüge zu anderen lateinamerikanischen Autoren gibt. Dass es sich bei den vier Ruderern aus Die Vermessung der Welt, Carlos, Gabriel, Mario und Julio um Anspielungen auf Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und Julio Cortázar handelt, wurde schon von zahlreichen Rezensenten erkannt. Rickes möchte jedoch weitergehen, sind die genannten Autoren schließlich “die bedeutendsten Erzähler der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur” (76). Rickes engagierter Versuch die Charaktere der Ruderer durch ihre schriftstellerischen Namensvettern zu erklären, scheitert letztlich: “dieses Rätsel soll anderen Deutern überlassen werden” (72) meint er, wobei der Verdacht nahe liegt, dass es gar kein Rätsel gibt, sondern dass Kehlmann die Namen schlicht als kleinen intertextuellen [End Page 124] Scherz in den Roman eingebaut hat. Wie überhaupt jeder Bezug zur lateinamerikanischen Literatur, der über García Márquez hinausgeht, ins Leere zu laufen droht. Einige Male weist Rickes auf interessante Strukturen in Kehlmanns Texten hin, findet dann jedoch nicht den geeigneten lateinamerikanischen Bezug, was vor allem deshalb schade ist, da sich wahrscheinlich bei intensiverer Betrachtung gerade Borges betreffend durchaus Parallelen anbieten würden. Kehlmann schreibt “extrem komprimiert und fast unepisch, vermeidet jedes überflüssige Wort, jede Füllung oder Streckung der Handlung” (83), meint Rickes und definiert damit gleichzeitig präzise auch die exakte Prosa Jorge Luis Borges’. Rickes selbst verweist in diesem Zusammenhang jedoch auf Alejo Carpentier, was in Bezug zu Kehlmanns Literatur ohne größere Aussagekraft bleibt.

Der Vergleich mit Borges scheint sich auch deshalb anzubieten, weil Kehlmann dessen ureigenste Themen und Motive aufgreift, die Rickes ganz allgemein in der lateinamerikanischen Literatur verwurzelt sieht: “Gedankenübertragung ist neben Labyrinth, Spiegel und Traum ein weiteres häufig verwendetes Element der modernen lateinamerikanischen Literatur” (62). Kehlmanns zweiter Roman Mahlers Zeit (1999) lässt vieles in der Schwebe und ist so konstruiert, dass viele Aussagen als Lüge oder Wahrheit einzuschätzen sind und Verwechslung oder Täuschung vorliegen. Ähnlich lässt sich Der fernste Ort (2001) auf verschiedene Ebenen lesen, wobei der Protagonist wahrscheinlich bereits am Beginn des kurzen Romans ertrunken ist und der Text die letzten Bewusstseinsinhalte des Sterbenden schildert. Dies erinnert an Borges’ Erzählung “Der Süden”. Borges selbst wiederum...

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