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Reviewed by:
  • Franz Kafkas Handschrift zum Schloss by Matthias Schuster
  • Susanne Hochreiter
Matthias Schuster, Franz Kafkas Handschrift zum Schloss. Heidelberg: Winter, 2013. 552 S.

Matthias Schuster legt mit diesem Buch eine umfangreiche Studie zur Bedeutung von Franz Kafkas Handschrift zum Schloss für die Rezeption vor und macht darin vor allem sichtbar, wie wenig die Editionen von Max Brod und Malcolm Pasley geeignet waren und sind, dem Werk gerecht zu werden. Er zeigt, dass zahlreiche Interpretationen und Leitthesen in der Kafka-Forschung von der Entscheidung dieser Editoren geprägt waren, die spezifische Ambivalenz und Offenheit der Romanfragmente zugunsten eines (ab)geschlossenen “Werks” zu negieren.

Schuster widmet sich zunächst im ersten Kapitel den methodischen Grundlagen und erörtert in einem Forschungsbericht nicht nur Grundsätzliches zur Hermeneutik und zur Position Schleiermachers, sondern auch verschiedene Ansätze der Erzähltheorie (von Stanzel über Genette bis Petersen und Bachtin). In einem darauf folgenden Abschnitt zur “Erzählperspektive bei Kafka” betont Schuster in Kritik an älterer Forschung die Relevanz einer differenzierten Analyse der verschiedenen, auch einander widersprechenden Stimmen in den Texten, die wesentlich zu einer charakteristischen “Delegitimation fester Ordnungen” beitragen und wesentlich sind für eine adäquate Interpretation von Kafkas Texten insgesamt.

Das umfangreiche zweite Kapitel beinhaltet jene in der Ausgabe von Brod und Pasley emendierten Teile der Handschrift, beschreibt sie und diskutiert deren Bedeutung. Besonders das so genannte “Fürstenzimmerfragment”, das als Prolog und Exposition des Schloss-Romans fungiere und in den früheren Editionen unterschlagen wurde, wird hervorgehoben. Auch Kafkas [End Page 103] eigene Streichungen werden angeführt und in Hinblick auf eine Grundhaltung seines Schreibens interpretiert: die “Vermeidung von Eindeutigkeit”.

Die detaillierte Analyse der Erzählperspektive im dritten Abschnitt dieses Kapitels ist Ausgangspunkt für die weiteren Dimensionen der Interpretation: “Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung”, “Transzendierung und Entmystifizierung der Gegenwelt”, “Autoreferentialität im Schloss”, ethische und soziologische Implikationen des Textes. Der Anspruch des Buchs von Matthias Schuster ist hoch. So verdienstvoll die Arbeit an der Handschrift ist und wertvolle Beobachtungen—wie die Diskussion der Erzählperspektive und die Diskussion von bislang negierten Passagen—die bisherigen Kenntnisse und Deutungsmöglichkeiten des Schloss ergänzen, so wenig neu sind in Summe die Ergebnisse. Schusters Kritik im Umgang mit Kafkas Handschriften durch Brod und Pasley ist fraglos gerechtfertigt und notwendig—und dies im Detail nachzuweisen ist gewiss ein Verdienst dieser Studie. Dass Schuster jedoch seine Kritik an der Kafkaforschung auf Publikationen der 1960er und 70er Jahre fokussieren muss, hat wohl den Grund, dass trotz der fehlerhaften Editionen und in der jüngeren Zeit auch unter Zuhilfenahme der Edition von Reuss/Staengle, deren Bände seit Ende der 1990er Jahre erscheinen, eine Vielzahl von Studien publiziert wurden, die genau das zeigen, was Schuster ebenfalls hervorhebt: Die vielschichtigen komplexen Erzählsituationen, die textinhärenten Widersprüche, die Unzuverlässigkeit des Erzählers, die Diver-sität der Wahrnehmungen usw. Viele Autor/Innen haben darauf hingewiesen, dass Kafkas Werk sich durch all diese Maßnahmen einer Vereindeutigung entzieht—einer der prominentesten war wohl Walter Benjamin, der bereits 1934 konstatierte, dass Kafka “alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte” (“Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages” in: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt, 1981: 22) getroffen habe.

Noch irritierender ist der textanalytische Zugang, der hinter dem Anspruch, die Komplexität der verschiedenen Stimmen und Sehweisen im Schloss, deren wechselseitige Durchdringung, nachvollziehen zu wollen, immer wieder zurückbleibt. Unter anderem in der Diskussion der Beziehung des Protagonisten zu den Frauenfiguren zeigt sich dies. Während Kafka auch hinsichtlich der Geschlechterordnung die Binaritäten bricht und unterläuft, rekurriert Schuster in seinen Überlegungen auf die problematischen Thesen ausgerechnet jener Forscher, deren Arbeit er im ersten Teil—zu Recht—kritisiert. “So charakteristisch wie heillos” sei für die Protagonisten der Romane [End Page 104] Kafkas die Verbindung zu den Frauen (126). Schuster stellt sich mit einer solchen Einschätzung in eine Forschungstradition von Hartmut Binder über Heinz Politzer bis Walter Sokel und Martin Walser, die misogyne Stereotype bedienten.

Schuster vertritt zudem einen Zugang, der eine Psychologie der Figuren annimmt: Die “Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung” führt er im Abschnitt 2.4. nicht mehr so sehr auf die Erzählperspektiven zurück, sondern verlegt...

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