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  • Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Das choreografisch-diskursive Format “walk+talk” von Philipp Gehmacher
  • Constanze Schellow (bio)

Das postdramatische Theater, verstanden als eine “bestimmte”, nicht eine “abstrakte” Negation des Dramatischen, ist, so Christoph Menke, gekennzeichnet durch eine Einsicht in die strukturelle Differenz zwischen Spiel und Handeln, Theater und Praxis (Menke). Im Diskurs über zeitgenössischen Tanz wird “Praxis” etwa zeitgleich mit Menkes Feststellung zu einem zentralen Begriff aufgewertet: Im Umfeld postdramatischer Performance verortete Stücke werden als Diskurs einer Praxis selbst-reflexiver Denkbewegungen beschrieben (Lepecki; Husemann; Sabisch). Vor dem Hintergrund dieses scheinbaren Widerspruchs wird das Verhältnis von Handlung und Spiel in dem seriellen Format walk+talk des Wiener Choreographen Philipp Gehmacher untersucht. Er lädt ChoreographInnen ein, ihre Praxis vor Publikum zu reflektieren, und zwar, indem sie diese performativ ausführen und dabei über sie sprechen. Bisher taten dies u.a. Meg Stuart, Boris Charmatz, Antonia Baehr, Mette Ingvartsen und Martin Nachbar im Wiener Tanzquartier (2008) und den Kaaistudios Brüssel (2011). Auf einer mit minimalen Interventionen präparierten Bühne akkumulieren sich im Lauf jeder Serie, wenn nicht Handlungen, so doch Handhabungen und Lokalisierungen. Sie aktualisieren sich wechselseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent: relational (Löw) und durational (Bergson). Was so vorgeschlagen wird, so die These, ist eine Neu-Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum.

This is not a lecture. Don’t trust my words. (Oleg Soulimenko) Es gäbe keine besseren ersten Worte für einen Text über walk+walk als die ersten Worte von walk+talk #1 von Oleg Soulimenko. Sie scheinen eine Antwort auf die Frage zu geben, was von diesem, von dem Choreographen und Tänzer Philipp Gehmacher konzipierten Format zu erwarten ist. Kein Vortrag, glaubt man Soulimenko. Der Sprecher selbst rät davon, ihm zu glauben, ab. Andererseits: Traut man seinen Worten also nicht, denen zufolge dies keine ‘Lecture’ ist – worauf anders gründet sich unser begründetes Misstrauen dann als auf seine Worte? Alle mit (Namen) markierten Aussagen sind meinen Notizen zu den Performances und den Videoaufzeichnungen der walk+talks #1-#10 entnommen. Im März 2008 lud Gehmacher neun Choreographinnen und Choreographen ein, sich im Tanzquartier Wien in einem für alle gleichen räumlichen Setup mit zentralen Triebkräften und Parametern ihrer künstlerischen Arbeit in actu zu befassen. Die Herausforderung bestand in der Vorgabe, die im Titel mit “walk” und “talk” benannten Spielarten von Reflexion dabei möglichst eng geführt anzuwenden: Sprache und physische Performance, Reden und Tun. Beides verstanden als reflexive Äußerungen über eine tänzerisch-performative Praxis im Modus dieser Praxis selbst. Teil nahmen damals in der Reihenfolge ihres Auftretens an fünf je zweiteiligen Abenden wichtige Akteure des zeitgenössischen Tanzes in Europa: Oleg Soulimenko, Meg Stuart, Gehmacher selbst, [End Page 169] Antonia Baehr, Rémy Héritier, Sioned Huws, Boris Charmatz, Jeremy Wade, Milli Bitterli und Anne Juren. Im Februar 2011 gab es in den Studios des Kaaitheaters Brüssel eine Fortsetzung u. a. mit Martin Nachbar und Mette Ingvartsen. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die erste Version in Wien.

Zur Diskussion gestellt werden soll die Frage, inwiefern es sich bei walk+talk um mehr als eine Serie von Lecture Performances oder Improvisationen handelt, nämlich um den choreographisch-diskursiven Prozess einer Neu-Aus-Handlung der Bühne als SpielRaum. Why don’t you just follow the wall? (Anne Juren) Erika Fischer-Lichte hat den Begriff der Aushandlung im Kontext ihrer Ästhetik des Performativen verwendet, dort bezogen auf die je neu in der Aufführung zu vereinbarenden partizipativen und rezeptiven Anteile im ko-präsenten Verhältnis von Akteuren und Zuschauern.1 Der hier vorgeschlagene Begriff der Aus-Handlung meint dagegen etwas anderes, nämlich das Handeln als per definitionem aus dem SpielRaum Bühne ausgeschlossene Tätigkeit oder sagen wir vorsichtiger: die Spielart eines solchen Handelns. Dabei werden die Begriffe von Handeln und Spiel in walk+talk über spezifische Operationen an den Raumund Zeit-Dispositiven ‘Bühne’ und ‘Performance’ in ein verändertes Verhältnis gebracht, ohne ihren strukturellen Gegensatz aufzulösen oder zu überdecken.

Pirkko Husemann begründet die etwa um das Jahr 2000 beginnende...

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