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  • Freiheit durch Verwandlung(en). Eine künstlerische Vision im Rückblick. Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere in der Inszenierung von Jürgen Gosch
  • Stefan Tigges (bio)

Ausgehend von der Grundannahme, dass sich die Vorstellungsräume von Künstlern und Publikum erst dann wirklich schöpferisch entfalten, wenn beide Seiten ihre ästhetischen Erfahrungen gemacht haben und die Spielregeln bzw. die “Eigengesetzlichkeit des Bühnenraums” (Edward Gordon Craig) durchschaut und wahrgenommen haben, werden am Beispiel von Jürgen Goschs Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere (Deutsches Theater Berlin 2007) die ästhetischen Maßverhältnisse im Spielund Kunstraum bestimmt. Dabei stellt sich u.a. die Frage wie der Autor bereits im Probenraum seinesTextes Regie führt, szenische Prozesse strukturell reflektiert und mit welchen Strategien die Regie im intensiven Zusammenspiel mit der Ausstattung (Johannes Schütz) die Darsteller spielerisch in einen performativ geprägten körperzentrierten und raumbildenden Diskurs verwickelt, der sowohl Fragen desVerwandlungsspektrums berührt als auch mit der Performanceart (Yves Klein) bzw. der aktionistisch geprägten Kunstpraxis (Wiener Aktionismus) in den Dialog tritt.

Die Ginsterkatze: Lass uns etwas anders sein, als wir sein müssen.

Der Löwe: Lass uns vergessen, was wir sind, und etwas anderes werden.

Wir wollen aufbrechen, uns verwandeln, frei sein.1

Die Maske fiel, und langsam trat der Schauspieler mit seiner Person in die Verwandlung ein.2

In seiner Laudatio für Jürgen Gosch und Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung am 03. Mai 2009 im Deutschen Theater, ihre letzte Zusammenarbeit Idomeneus liegt nur wenige Tage zurück, gewährt der Autor Roland Schimmelpfennig seinen Zuhörern Einblicke in die kollektiven Arbeitserfahrungen, indem er versucht ihre in den letzten Jahren entwickelte Theaterästhetik genauer zu bestimmen.3 Unterstreicht die Auszeichnung die Bedeutung des intensiven Zusammenspiels von Regie und Ausstattung – Jürgen Gosch und Johannes Schütz arbeiteten seit ihrer ersten Möwe (Schauspielhaus Bochum, 1991) kontinuierlich zusammen – erstaunt Schimmelpfennigs Rede gleich mehrfach.

In der in einem auffällig persönlichen Ton verfassten Laudatio, die gerade deswegen so frei und sinnlich nachklingt, da sie ohne theoretische Exkurse oder künstlerische Beglaubigungsmuster auskommt, gelingt es dem Dramatiker die höchst vergängliche Theaterkunst exemplarisch im Hier und Jetzt binnenperspektivisch aufzurufen und dort für einen Moment assoziationsreich zu verorten. Für eine Laudatio eher untypisch skizziert Schimmelpfennig (s)eine künstlerische Vision, d. h. ein (utopisches) ästhetisches Programm, wobei er die Zuhörenden dazu einlädt Vorstellungsräume zu betreten, um sich weitere von Gosch und Schütz realisierte Arbeiten vorzustellen. Schimmelpfennig fragt weniger “Was war?” sondern richtet sein Interesse auf die Frage “Wohin [End Page 99] jetzt?”, womit eine signifikante Aufbruchstimmung und eine Lust auf noch minimalistischere, d. h. noch radikalere Schreib-, Spielund Raumästhetiken spürbar wird, die Autor, Regisseur und Bühnenbildner teilen, die insgesamt zehn Mal zusammenarbeiteten und sich gegenseitig immer stärker künstlerisch befruchteten.

Zu Beginn der Rede erinnert sich der Dramatiker an ein gemeinsames Gespräch, in dem es um die Frage ging, “wie es wäre, wenn sich ein komplettes Ensemble von Schauspielern in einen Schwarm Vögel” verwandeln würde oder wie sich Verwandlungen in Löwen, Wölfe, Krokodile, Skorpione oder in ein Spiegelei realisieren ließen, um darauf den Regisseur zu zitieren und eine zentrale Grundvorstellung von Gosch und Schütz zusammenzufassen: “Alles ist spielbar, solange es im Text steht. Das Theater von Jürgen Gosch und Johannes Schütz ist ein Theater auf der Suche nach der vollkommenen Freiheit. Es ist ein Theater der Vorstellungskraft.”

Die Passage belegt, dass es in dem Gespräch auch um Das Reich der Tiere ging, das am 1. September 2007 in der bewährten Konstellation als siebte Zusammenarbeit im Deutschen Theater Berlin als Auftragsarbeit uraufgeführt wurde. Mit der angestrebten “vollkommenen Freiheit”, die ein “Theater der Vorstellungskraft” voraussetzt bzw. diese in Form von “Ergänzungsenergien” (Schütz) gleichermaßen von allen beteiligten Künstlern und Zuschauern einfordert, kommt auch das zentrale Moment der Verwandlung ins Spiel, die, so die These, die ästhetischen Maßverhältnisse in den Spielund Kunsträumen von Jürgen Gosch und Johannes Schütz maßgeblich mitbestimmt und in der gegenwärtigen Auff...

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