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  • Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung
  • Patrice Pavis (bio)

Ein Gespenst geht in Europa und der Welt des Theaters um: das Gespenst des Zuschauers. Dieses “neue” Konzept beschäftigt die akademische Reflexion und die Verwaltung der Theater derart, dass ihm allseits zahlreiche Bücher und Studien gewidmet werden. Dieses nur scheinbar gute Konzept, das für jeden offensichtlich und allen leicht zugänglich erscheint, wird leider schnell zum Albtraum des Theoretikers, eben weil das Offensichtliche zu keiner wirklichen Erkenntnis führt. Allerdings täte die Aufführungsanalyse tatsächlich gut daran, das Ende der theatralen Kette besser kennen zu lernen: die menschliche Person, der all diese unsinnige Arbeit von vorneherein und letztendlich gewidmet ist.

Die folgenden Ausführungen und die kritische Synthese haben keinen anderen Anspruch als dem Leser (ein anderer vager Terminus!) einige Schlüssel an die Hand zu geben, die ihm einen schnelleren Zugang zur Problematik und aktuellen Untersuchungen zum Zuschauer ermöglichen.

1. Der zur Debatte stehende Zuschauer

1.1 Der Zuschauer ist ein Subjekt

Dieses “zuschauende” Subjekt ist zu konstituieren. Wir wissen beinahe nichts über den Zuschauer, außer dass er ein Objekt “betrachtet”: eine Bühne, eine Aufführung, einen Schauspieler, ein Ereignis, und noch viele andere, oft imaginäre Dinge. Das klassische Subjekt, beispielsweise das kartesianische, ist eines, das denkt und sich somit seiner Existenz versichert. Aus der marxistischen Perspektive ist das Subjekt ein SubForum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 73-97. Gunter Narr Verlag Tübingen jekt der Sprache, kultureller Codes, sozialer Konventionen, Institutionen; angesprochen/ angerufen durch das, was Althusser die ideologischen Staatsapparate nennt. Für Freud sieht das mit den tragischen Helden der Bühne konfrontierte Subjekt alles, verneint dabei aber die befreiten Teiles seines Ichs den “Psychopathischen Personen auf der Bühne” (1905).1

Dieses eher intensivierte als unifizierte Subjekt projiziert seine Wünsche auf das, was es sieht und gelangt so zu ihrer Identifikation. Ähnlich wie das Kind im Spiegelstadium2 in die symbolische Ordnung eintritt, indem es sich als von seiner Mutter verschiedenes Subjekt konstituiert, wird der Zuschauer erst er selbst, wenn er alle Ebenen dessen identifiziert, was er wahrnimmt. Nach dem Lacan’schen Spiegelstadium – ein quasihamletischer Spiegel – und nach der poststrukturalistischen Konzeption ist das Subjekt zugleich konstituiert und konstituierend, Effekt und Agens des Schauspiels, auf das es seinen Blick richtet.

1.2 Der Zuschauer im Mittelpunkt der Sozialwissenschaften

Gerade erst konstituiert, ist der Zuschauer, ob er will oder nicht, aufgefordert, von den Errungenschaften der Sozialwissenschaften zu profitieren und sich der Reihe nach oder auch gleichzeitig zum Soziologen, Semiologen, Anthropologen, Politologen, interkulturellen Experten usw. zu machen. Der springende Punkt ist, herauszufinden, wie er ausgehend vom Theater Zugang zu diesen Wissensgebieten erlangt, wie er sie kombiniert, ihr Zusammenspiel interpretiert: er [End Page 73] tritt in den Konflikt der Interpretationen ein. Die Wahrnehmungen und ihre Interpretationen reihen sich in seinem Inneren mit einer Geschwindigkeit und einer außergewöhnlichen Flüchtigkeit aneinander. Alles ist im Fluss, eine illusorische Bilderfolge, flüchtige Eindrücke.

1.3 Der Zuschauer in der Geschichte

Für den Zuschauer und a fortiori für den Theoretiker wäre das einzige Mittel, an der Oberfläche dieses stetigen Flusses zu bleiben, nach historischer, ja historisierender Weise vorzugehen: durch die Analyse, in welchen historischen, kulturellen, sozio-ökonomischen Kontexten das Schauspiel existiert und inwieweit sich die Fragestellung konstant verändert. Man müsste also die Geschichte der impliziten Theorien des Zuschauers nachzeichnen, auch wenn es nur geschähe, um zu verstehen, wie das Subjekt in verschiedenen Epochen polymorphe Theaterformen unterschiedlich wahrnimmt, die ihrerseits von Grund auf variieren.

2. Historische Bezüge

Dank der Forschungsarbeit von MarieMadeleine Mervant-Roux3 oder Florence Naugrette4 können wir besser nachvollziehen, wie jede Epoche die kritische Rolle ihrer Zuschauer definiert:

  • • 1950er Jahre: Für Philosophen wie Henri Gouhier oder Regisseure wie Jean Vilar grenzt die Theatervorstellung an eine Zeremonie oder eine Kommunion, fähig, die Menschen einander näher zu bringen. Das Publikum der einfachen Leute ist noch zu überzeugen und zu gewinnen: “beim Zuschauen agiert er (der Zuschauer) nicht als solcher, sondern als Repräsentant der Lebenswelt, aus der er kommt”5, “im Rahmen einer allgemeinen Identifikation des Theaters mit einem klassischen politischen Raum”6.

  • • 1960er Jahre: Der “aktive”, ja “reaktive” Zuschauer...

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