In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Joseph Roth. Heimweh nach Prag. Feuilletons, Glossen, Reportagen für das “Prager Tagblatt” ed. by Helmuth Nürnberger
  • Peter Höyng
Helmuth Nürnberger, Hrsg., Joseph Roth. Heimweh nach Prag. Feuilletons, Glossen, Reportagen für das “Prager Tagblatt.” Göttingen: Wallstein Verlag, 2012. 640 S.

“Wenn ich nicht so viel Sehnsucht nach Paris hätte—ich hätte Heimweh nach Prag” (274). Für den rastlosen und allzu oft mittellosen Joseph Roth (1894–1939), den scharfzüngigen aber nachsichtigen Beobachter seiner politischkulturellen Lebensumwelten, ist Prag “eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität” (274). Moment: geht das überhaupt: Heimweh, ohne Sentimentalität? Für Roth, der Widersprüche nicht scheute und menschliche Abgründe liebend umgarnte, blieb stets “auf der Suche nach einer Heimat” (633, M. Reich-Ranicki), die er politisch, geographisch, kulturell stets dort fand, wo er nicht oder nicht mehr war. Und in der Tat vermochte er es nicht nur, sondern verstand er es in seinen vielfältigen narrativen Genres, die er bediente, den Blick auf die Realitäten ohne Eintrübung pathetischer Gefühle offen zu halten.

Man lese einmal die soziale Momentaufnahme des Sechsundzwanzigjährigen aus Berlin, Der Stuhl eines Schneiders: seine Beobachtung balanciert zwischen nüchterner Wahrnehmung und sozialem Gewissen, und gerade [End Page 119] in ihrer betonten Sachlichkeit zeigt sich die Feinfühligkeit und fordert Anteilnahme: “Es ist ein ganz gewöhnlicher hölzerner Stuhl. Aber es ist der Stuhl. Und nun weiß ich auch: warum die Wohnung so grausam ist: weil ein Gegenstand sie bewohnt und der Mensch, der auch da ist, ein Gebrauchsgegenstand ist. Als wäre der Mensch ein Stuhl. Er ist aber nur ein Schneider, der Hunger hat” (38).

Anders als die von Michael Bienert und Michael Hofman herausgegebenen Berlin-Reportagen Roths, die dieser hauptsächlich in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte, versteht sich Helmuth Nürnbergers Buch nicht als ein “Lesebuch für Spaziergänger” (Bienert), sondern er legt für Roth-Liebhaber und gleichermaßen—Kenner “sämtliche Artikel Roths, die—nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand—im Prager Tagblatt erschienen sind und ihm sicher zugeschrieben werden können” auf knapp 500 Seiten vor. Der fadengeheftete und sorgfältig betreute Band enthält auf weiteren 150 Seiten nicht nur genaue Nachweise der jeweiligen Einzelbeiträge, sondern auch Kurzkommentare zu Personen und Begriffen. Nürnbergers den literaturhistorischen Sonderfall deutschsprachiger LeserInnen in der tschechischen Hauptstadt wie auch den biographischen Kontext Roths erschließendes Nachwort rundet dieses handliche Sprach-und Buchjuwel ab.

Selbstredend liest man dieses Buch nicht als Ganzes; schließlich ist es erst der umtriebige Wunsch des literaturhistorischen Archivars, der diese Texte zu einer Einheit gesammelt und chronologisch angeordnet hat, und dadurch verdienstvoll eine Lücke in Roths vagabundierendem Schriftstellerleben füllt. Schnell fällt auf, dass das Gros der Texte für das Prager Tagblatt in die zwanziger Jahre fällt, der Zeit nach den Schockwellen des Ersten Weltkrieges und nationalstaatlicher Neuordnung des ehemaligen “Kakanien”. Die Tageszeitung genoss zwar “weiterhin hohes Ansehen”, konnte aber nicht mehr seinen angestammten Platz “zur meist gelesenen deutschsprachigen Zeitung im Habsburgischen Kaiserreich außerhalb Wiens” behaupten (573).

Obwohl Roth in keiner anderen Zeitung “so lange mit Beiträgen” wie im Prager Tagblatt “präsent” war (593), bildet der eingangs zitierte Beitrag und das hintergründige Bonmot bezüglich seines Verhältnisses zu Prag, wo “abstrakte Kosmopoliten […] in den Schoß der mütterlichen Skepsis” heimkehren, und sich “auslachen, bis sie gesund werden” (276) die große Ausnahme; ja es täuscht denn auch über die grundsätzliche Blickrichtung des Verfassers, der für sein Publikum in Prag größtenteils aus Deutschland oder Österreich, Polen, Frankreich und Russland berichtete, dort Beobachtetes [End Page 120] beschrieb, von Ereignissen erzählte, über Vorgänge politischer Natur räsonierte, Erlebtes darstellte, Zusammenhänge offenbarte, erklärte, erörterte; nur eben nie lauthals kakelte, drauf los plauderte, vor sich hin schwatzte, abschweifend ratschte, oder dumpfbackig quatschte. Zu genau bleiben seine sprachlich-literarischen Fähigkeiten, um menschliche oder politische Dinge auf den Punkt zu bringen, wie etwa wenn er von der Begegnung eines exotisch wirkenden “blonden Neger Guilleaume” berichtet, der im Zugabteil von seinen Mitreisenden als Exot ein-und ausgegrenzt wird, und den Umgang seiner Zeitgenossen mit...

pdf

Share