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Reviewed by:
  • TATORT. Ein populäres Medium als kultureller Speicher by Dennis Gräf, and: Tatort Deutsche Einheit. Ostdeutsche Identitätsinszenierung im “Tatort” des MDR by Tina Welke
  • Jochen Vogt
TATORT. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Von Dennis Gräf. Marburg: Schüren, 2010. 330 Seiten. €29,90.
Tatort Deutsche Einheit. Ostdeutsche Identitätsinszenierung im “Tatort” des MDR. Von Tina Welke. Bielefeld: transcript, 2012. 337 Seiten. €35,80.

Am Sonntag, an dem ich diese Zeilen schreibe, wird im Ersten Programm des Deutschen Fernsehens (ARD) um 20 Uhr 15 die 838. Folge der Kriminalfilm-Reihe Tatort gesendet; sie kommt vom Südwestrundfunk und heißt “Der Wald steht schwarz und [End Page 538] schweiget” (ganz recht: Matthias Claudius!). Und bis Sie diese Rezension lesen können, werden es noch ein oder gar einige Dutzend Folgen mehr sein. Dass diese 90-Minuten-Krimi-Serie auf dem traditionellen Sonntagabend-Sendeplatz gleich nach der Tagesschau eine besonders beliebte, charakteristische, ja die wichtigste Errungenschaft einer eigenständigen deutschen Populärkultur sei, ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Die Wochenzeitung Die Zeit rechnet im Jahr 2009 unter ihre definitiven “60 Sätze über Deutschland” auch diesen: “Wer Deutschland verstehen will, muss Tatort gucken.” Das wird zumindest von jungen Leuten auch immer häufiger gemeinsam getan: Es soll inzwischen, von Freiburg über Potsdam bis Kiel, 300 sonntägliche Tatort-Kneipen geben. Da muss schließlich auch die New York Times in einem längeren Bericht vom 26.8.2009 einräumen, man müsse diese Sendung als einen “Mikrokosmos der Bundesrepublik Deutschland” verstehen.

In scharfem Kontrast hierzu steht ein erstaunliches Defizit an kritischer Aufarbeitung von Seiten der zuständigen Wissenschaften; gerade auch im Vergleich mit der regelmäßigen und niveauvollen Begleitung der Sendereihe, meist in Form von Vorkritiken, in den überregionalen Qualitätszeitungen, beispielhaft in der FAZ. Dagegen stehen lediglich eine Handvoll kritischer Aufsätze aus medien-, film- und literaturwissenschaftlicher Sicht, zahlreiche Magisterarbeiten und ein oder zwei laufende Forschungsprojekte. Alles in allem dürfte der nichtakademische Essay-Sammelband Ermittlungen in Sachen Tatort von Eike Wenzel aus dem Jahr 2000 immer noch das Gehaltvollste sein, was man zum Thema lesen kann. Gründe für dieses Manko mag man in der nach wie vor labilen Institutionalisierung von Film- und Fernsehwissenschaft im deutschen Universitätssystem finden, oder darin, dass sich die germanistische Literaturwissenschaft, auch nach ihrem lauthals proklamierten cultural turn, nach wie vor schwer tut mit dem Populären und sich lieber auf Hochkulturelles kapriziert, von dem immer noch mehr farbiger Abglanz auf die InterpretInnen zu fallen scheint.

Da kann es nur heißen: Freie Bahn dem tüchtigen Nachwuchs! Dennis Gräf hat mit seiner Passauer Dissertation als erster beherzt den Anspruch erhoben, “diese Lücke,” also das Fehlen “einer umfassenden wissenschaftlichen Monographie zum Tatort” (28) zu schließen, und man darf ihm diese Leistung auch grundsätzlich bescheinigen. Seine Arbeit ist historisch-chronologisch angelegt, folgt also dem Stereotyp vom Tatort als einer Art (ungeplanter) “Chronik” der Bundesrepublik seit 1970. Andere Blickwinkel, etwa der regionalistische—Tatort als deutsche Landkarte—bleiben untergeordnet. Dass die “70er und 80er Jahre […] den Hauptgegenstandbereich der Untersuchungen” (27) darstellen, ist zwar bedauerlich, weil Tatort mit zunehmendem Alter und Selbstbewusstsein immer interessanter wird (was Gräf durchaus notiert), erklärt sich aber auch aus den arbeitsökonomischen Zwängen einer Doktorarbeit.

Gräf sieht Tatort als “Reihe” (eben nicht Serie!) von Filmen, die teilweise differierende “Wirklichkeitskonstruktionen” oder “Weltentwürfe” anbieten, zugleich aber in einem Bezugsrahmen stehen, der sie als grundsätzlich “mimetische” Formen an die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik rückbindet. Sie implizieren eine eigene “Anthropologie,” die sich an konkreten Themen wie Sexualität besonders deutlich offenbart; sie transportieren zeit- und milieugebundene Normen und Werte; sie inszenieren spezifische Konfliktmuster, die sich in den Bezugsfeldern von Recht und Moral als Formen von “Kriminalität” konkretisieren, und bieten oder verwerfen verschiedene “Konfliktlösungsstrategien.” Von hoher Aussagekraft ist bereits [End Page 539] die Thematisierung oder aber Ausgrenzung brisanter Problemkomplexe der sozialen Realität (Terrorismus, Migration, Kindesmissbrauch) in bestimmten Epochen. Zugleich tragen “narrative Muster,” etwa im Entwurf problematischer Vorgeschichten oder in der Konstruktion von Handlungsräumen (Innen-Außen) wesentlich zur Botschaft des einzelnen Films bei.

Gräf nähert sich also, wie an solchen Leitbegriffen zu...

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