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  • Gattung und Geschlecht bei Sophie von La Roche und Maria Anna Sager
  • Helga Meise

Sophie von La Roche (1730–1807) und Maria Anna Sager (1719–1805) sind die ersten Frauen der deutschsprachigen Aufklärung, die Romane veröffentlichten. La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen erscheint 1771 anonym bei Weidmanns Erben und Reich in Leipzig; als Herausgeber figuriert Christoph Martin Wieland (1733–1813). Sagers Die verwechselten Töchter, eine wahrhafte Geschichte in Briefen entworfen von einem Frauenzimmer und Karolinens Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine kommen 1771 und 1774 bei Wolfgang Gerle in Prag heraus. Der erste Roman erscheint anonym, der zweite unter dem Kryptonym „M. A. S.“ Dass sich dahinter Maria Anna Sager verbirgt, konnte ich anhand von zeitgenössischen Quellen zeigen; dass die Autorin selbst in ihren letzten Lebensjahren mit dem Namen „Sager“ unterschrieb (Cornova 55), legt nahe, diese Schreibweise anstelle des in der Forschung geläufigen „Sagar“ zu verwenden.

Jeder Roman thematisiert das Verhältnis von Gattung und Geschlecht: er stellt die Geschichte weiblicher Titelfiguren in den Mittelpunkt und fragt gleichzeitig nach der Form der Darstellung. Jeder bringt damit eine zentrale „Denkfigur“ (Fleig und Meise 159) der zeitgenössischen Gattungspoetik ins Spiel. Gemeint ist die Affinität, ja der vermeintlich unmittelbar gegebene Zusammenhang von literarischer Gattung und weiblichem Geschlecht, den Christian Fürchtegott Gellerts (1715–1769) „Natürlichkeitspostulat“, aufgestellt 1742 und 1752 für die Abfassung von Briefen, in den Blick gerückt hatte: „Es ist offensichtlich, daß die Frau von Gellert mit dem natürlichen Briefstil identifiziert wird. Und Gellert ist genau der erste, der diese Verbindung herstellt.“ (Nörtemann 22) Die Leichtigkeit, mit der Frauen „natürlich, aufgeweckt, naiv und überzeugend . . . schreiben“ (Nörtemann 21), schien sie nicht nur zur Abfassung von Briefen, sondern auch zu der von Briefromanen und Romanen zu prädestinieren – verfügten sie doch infolge ihrer nur beschränkten Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten über den unmittelbaren Zugang nicht nur zu ihren Empfindungen und Gefühlen, sondern auch zu deren Ausdruck und damit auch über das Rüstzeug für die neuen Gattungen Brief, Briefroman und Roman. Johann Georg Sulzer (1720–1779) überträgt diese Überlegungen auf die Lyrik; seine Vorrede von 1764 zu den Gedichten von Anna Louisa Karsch (1722–1791) lobt, dass bei [End Page 131] dieser Dichterin „die Natur durch die Begeisterung würket“, und zwar „Ohne Vorsatz, ohne Kunst und Unterricht“ (IX). Wieland wendet sie in der Vorrede zur Sternheim auf den Roman und die weibliche Autorschaft an. Aber schon Friedrich von Blanckenburgs (1744–1796) Versuch über den Roman von 1774, die erste romantheoretische Schrift des deutschsprachigen Raums, die den Roman auf die Darstellung der „inneren Geschichte eines Menschen“ verpflichtet, veranschaulicht diese Bestimmung an Wielands Agathon von 1767 (see e.g. Schlimmer, Romanpoetik 47) und damit an einer männlichen Titelfigur. Dies kommt einer Festlegung und einer Instrumentalisierung des Romans gleich. Er wird, wie Schlimmer gezeigt hat, zum „Bildungsmittel“ für „die Bewältigung der alltäglichen Lebenspraxis“ und den dazu erforderlichen Umgang mit „Empfindungen und Gefühlen“ („Roman als Erziehungsanstalt“ 220): Er dient „‚zur Unterhaltung, zur Verbesserung, zur Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts’ [Blanckenburg, H. M.]. Der Roman wird zu einer Erziehungsanstalt für Leser.“ (220)

Damit bahnt Blanckenburgs Versuch dem Aufstieg des Bildungsromans den Weg. Mit „Geschlecht“ meint er indes nur das männliche Geschlecht: Individuen männlichen Geschlechts vermögen eine Entwicklung zu durchlaufen, wie Goethes Wilhelm Meister in den Lehrjahren (1795) programmatisch formulieren wird: „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“ (290) Blanckenburgs „Fixierung“ auf den Romantypus Entwicklungsroman, so Schlimmer („Roman als Erziehungsanstalt“ 220), setzt mit der Begründung des Romans als literarischer Gattung auch die Unterscheidung von literarisch wertvoller und bloß unterhaltender Literatur ins Werk. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird „der Bildungsroman zur einzig anerkannten Form der Gattung erklärt“ (220), andere Romantypen werden abgewertet und aus dem sich formierenden Kanon anerkannter Texte verdrängt, selbst wenn diesen wie auch im Fall der von Frauen verfassten Romane, ein eigener Typus - eben der „Frauenroman“ - zugestanden wird, wie Schlimmer festhält (221). Diese wenigen...

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