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  • Über herausgehobene Momente im Tanz
  • Katarina Kleinschmidt (bio)

In seinem Bewegungs-Bild erklärt Deleuze das Umgehen mit Posen im Tanz für anachronistisch, die er im Sinne des Klassischen Balletts als bloße Aktualisierung transzendenter Formen betrachtet. Der vorliegende Text folgt Deleuzes Argument, dass der Tanz die Pose im 20. Jahrhundert für aus der Analyse gewonnene “beliebige Momente” und zugunsten eines neuzeitlichen Verständnisses von Bewegung aufgebe, und führt choreographische Beispiele der 1970er bis 1990er Jahre an.


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Abb. 1.

Die Berliner Choreographin Thérèse Nylén arbeitet in ihrem Solo PIECE für die Performerin Zufit Simon mit Zitaten der Tanzgeschichte. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Loulou d’Aki)

Im zeitgenössischen Tanz jedoch entsteht, so die These, ein erneutes, verändertes Interesse an der Pose, das nicht als anachronistisch abgetan werden kann: Als Bewegungszitat bildet sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Wiedererkennbarkeit den Ausgangspunkt für Fragen der Aneignung historischen Bewegungsmaterials (Hardt), für Verweise auf “Lücken der Zu-Ordnung” (Brandstetter) bzw. für ihre eigene Auflösung im choreographischen Verfahren des Morphing. Letzteres vermag durch Irritation in der Choreographie PIECE, als ein Unkenntlich-Machen fungierend, herausgehobene Momente zu gestalten und gleichzeitig Deleuzes Frage nach dem stetigen Werden der Bewegung zu reflektieren. [End Page 65]

In seinen “Thesen zur Bewegung” äußert sich Gilles Deleuze wie folgt über den Tanz:

Der grundlegende Fehler besteht stets darin, die Bewegung aus Momenten oder Positionen zu rekonstruieren […] die Bewegung [bringt so] nur eine ‘Dialektik’ der Formen, eine ihr Ordnung und Maß verleihende ideale Synthese zum Ausdruck. Eine so aufgefasste Bewegung besteht also im geregelten Übergang von einer Form zur anderen, das heißt in einer Ordnung von Posen oder hervorgehobenen Momenten wie in einem Tanz.1

Um so mehr gaben Tanz, Ballett und Pantomime die Figuren und Posen auf, um das Nicht-Gestellte, Nicht-Gestelzte freizusetzen, das die Bewegung auf den beliebigen Moment bezieht.2

Deleuze vergleicht hier die Vorstellungen von Bewegung in der Antike mit jener der Neuzeit und bezieht sie auf den Tanz des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts. Erstere rekonstruiere Bewegung aus Positionen und Übergängen, die Wissenschaft der Neuzeit hingegen beziehe sie nicht mehr auf Positionen, im Sinne einer bloßen Aktualisierung transzendenter Formen, sondern auf beliebige Momente. Da es seither nicht mehr eine dialektische Ordnung der Formen sei, die Bewegung ausmache, konnte sich ihr durch Analyse in jedem beliebigen Moment angenähert werden. Das heiße für den Film, dem bekanntlich Deleuzes Interesse im hier zitierten Bewegungs-Bild gilt, dass sich das Herausgehobene, Auffallende oder Singuläre “in welchem Moment auch immer”3 ereignen könne.

Diese Äußerungen sollen den Ausgangspunkt bilden für Fragen nach verschiedenen Konzeptionen von “herausgehobenen Momente[n]”4 im Tanz, besonders im zeitgenössischen Tanz, sowie nach den zu ihrer Hervorbringung verwendeten choreographischen Verfahren. Inwiefern lassen sich Deleuzes Überlegungen übertragen? Untersucht werden soll dazu – neben der Erwähnung einiger Beispiele der 1970er bis 1990er Jahre – das Solo PIECE der Berliner Choreographin Thérèse Nylén, ein Stück für eine Performerin (Zufit Simon).5

Deleuze erklärt ersteres Konzept, das im Aktualisieren von idealen Formen dem des Klassischen Balletts entspricht, in dem die Übergänge zwischen Sprüngen und Balancen nicht weiter von Interesse sind, für anachronistisch.6 Im zeitgenössischen Ballett jedoch, in den Stücken William Forsythes der 1980er und 1990er Jahre, ist eine Dynamisierung der Posen zu beobachten. Balancen und Sprünge sind hier derart beschleunigt, dass sie nicht mehr grundsätzlich herausgehoben sind. Die Bewegungen des hierarchisch in Posen und Übergängen geordneten Systems des Klassischen Balletts sind sozusagen ‘demokratisiert’.7

Nach Posen oder gehaltenen Figuren, die als Höhepunkte einer Schrittfolge gelten würden, sucht man bei William Forsythes Tänzern […] vergeblich. Sie streifen Figuren wie die Arabesque lediglich, sie nähern sich ihnen an, bevor diese im permanenten Fluss der Bewegung wieder verschwinden.8

Diese Beschleunigung resultiert bei Forsythe aus der Überlegung, dass das Ideal einer Pose wie der Arabesque niemals erreicht werden kann. Der Tänzer könne lediglich durch die Pose hindurchgehen, “ohne sie vollständig zu besetzen”, so Gabriele Brandstetter.9 Choreographisch entsteht hier die M...

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