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  • Von Wien her, auf Wien hin. Ilse Aichingers “Geographie der eigenen Existenz” by Simone Fässler
  • Eva Kuttenberg
Simone Fässler, Von Wien her, auf Wien hin. Ilse Aichingers “Geographie der eigenen Existenz”. Literaturgeschichte in Studien und Quellen 18. Wien: Böhlau, 2011. 276 S.

1938 wird Wien, ein Ort kindlicher Geborgenheit, für Ilse Aichinger, die Tochter einer jüdischen Ärztin und eines “arischen” Lehrers, schlagartig zu [End Page 171] einer Topographie des Terrors. Diese Stadt schmerzvoller Familiengeschichte prägt Aichingers Werk, in dem sich die Genese eines lebenslangen Erinnerungsdiskurses abzeichnet. Die gebürtige Wienerin kehrt nach jahrzehntelanger Abwesenheit 1988 in die Stadt ihrer Kindheit, Jugend und Studienzeit zurück. Ihr Wien der Kunst und des Alltags, der Kirchen und Kinos, der Küchen und Cafés, der Geschichte und Gegenwart bzw. der allzeit gegenwärtigen Geschichte bietet eine Fülle heterogener Erinnerungsräume.

Die Herausgabe von Kurzschlüsse. Wien (2001), einer Neuaufiage von Aichingers 1953/54 entstandenen Prosagedichten, und ihrem Alterswerk Unglaubwürdige Reisen (2005), macht die Kritikerin Simone Fässler einschlägig mit Aichingers Schreiben vertraut. In der vorliegenden Studie Von Wien her, auf Wien hin untersucht Fässler mit Akribie und Fingerspitzengefühl formale Aspekte im über sechzig Jahre umfassenden, genrereichen Schaffen Aichingers. Im Zentrum der Analyse steht die Topographie bzw. Topologie, der Nexus aus Raum und Sprache, die Aichingers Poetik sowie Fässlers Lust zur mikroskopischen Textanalyse prägen.

Am Beispiel der Erzählung “Das Plakat” (1948) erstellt Fässler zunächst ein Raum-, Zeichen- und Lektüremodell. Ausführlich geht sie dann auf Aichingers einzigen Roman Die größere Hoffnung (1948/1960) ein. Weitere Kapitel gelten den szenischen Dialogen Zu keiner Stunde (1957) sowie dem explizit autobiographischen Oeuvre Aichingers. Dazu zählen die nicht veröffentlichten, im Literaturarchiv Marbach verwahrten Tagebücher, die erstmals unter dem Titel Straßen und Plätze (1954) erschienenen Prosagedichte, die Erinnerungstexte Kleist, Moos, Fasane (1959–1982), die Autobiographie Film und Verhängnis (2001) und die letzte Textsammlung Unglaubwürdige Reisen (2005).

Sätze wie “Die Orte, die wir sahen, sehen uns an” artikulieren Aichingers ästhetisches Anliegen, das sich einer faktenheischenden Lektüre versperrt, ein dialogisches Prinzip impliziert und das Erinnern perspektiviert. In der gelungenen Einleitung verweist Fässler zunächst auf den für die 1950er Jahre typischen Paradigmenwechsel vom Inhalt zur Form. Unter dem Signum des Schweigens, der Abwesenheit und des Verlusts, versuchen Autoren wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann und am vehementesten Ilse Aichinger, den Raum neu zu konstituieren. Fässler entwickelt ihr Lektüremodell mit Hilfe von Maurice Merleau-Pontys Raumkonzept, der dem “objektiven, zeitlosen Positionsraum” einen “Situationsraum” gegenüberstellt, “der im Hier und Jetzt eines handelnden Subjekts entspringt” (23). Durch eine “Verortung in der Ortlosigkeit” (14) entwickelt Aichinger eine “Sicht der Entfremdung” (17), [End Page 172] aus der sie offene, transformierbare Erinnerungsräume gestaltet. Gegenläufige Dynamiken, die zwischen geographischer Verankerung und poetischer Abstraktion pendeln, zielen auf das Sichtbarmachen der kulturell-historisch geprägten Wahrnehmungsveränderung ab.

Überzeugend arbeitet Fässler Akzentverschiebungen in Aichingers Erinnerungspoetik heraus und zeigt, wie sie “Abwesenheit in Präsenz, Erinnerung in Gegenwart” verwandelt (28). Aichingers Erinnerungen sind im kommunikativ, gelebten Gedächtnis verankert. Durch das Schreiben stellt sie einen persönlichen Bezugsrahmen her, der unweigerlich an Entwurzelung, Abwesenheit und Zerstörung gekoppelt ist. Im Spätwerk schließt sich dieser Themenkreis mit dem Einüben des Verschwindens im Kino. Grundlegend evozieren Aichingers verschlüsselte Erinnerungstexte eine ähnliche Orientierungslosigkeit im Leser, die sowohl das Mahnmal am Wiener Judenplatz als auch das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin bewirken wollen. In Aichingers Alterswerk, das refiektiver, aber auch undurchdringlicher und collagenhafter wird, steigert sich die Komplexität und Dynamik des Erinnerns durch Filme. Anstelle der Dichotomien Kindheit/Erwachsenenwelt, so Fässler, tritt ein zyklisches Muster der Be- und Entgrenzung (178). Das Erinnern wird assoziativer und vielstimmiger: “Die Erinnerung wird nicht mehr verwandelnd vergegenwärtigt, sondern in partiellen Anspielungen vielfach aufgerufen” (199). Die epische Form des Romans wird diesem Denken nicht mehr gerecht.

Der Verdienst von Fässlers Studie liegt zweifellos im gelungenen Entschlüsseln von Aichingers “Denkmustern, ihrem Schreib- und Erinnerungskosmos” (238). Besonders effektiv dabei ist die Berücksichtigung des Gesamtwerks. Abgesehen vom vielzitierten Roman Die größere...

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