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  • Von Patmos nach Bayreuth: Apokalyptik und Androgynität in Richard Wagners Parsifal
  • Christian Clement

Nah ist Und schwer zu fassen der Gott [. . .] So sprach ich, da entführte Mich schneller, denn ich vermutet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich [. . .] Und da ich hörte Der nahegelegenen eine Sei Patmos, Verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn.

(Hölderlin: Patmos)

In jener “dunkeln Grotte” geistig einzukehren, in welcher der Apokalyptiker Johannes vor rund zwei Jahrtausenden seine lichtvollen Visionen empfing, und dort dem Mysterium der “nahen und doch so schwer zu fassenden” Gottheit mit Künstlersinnen nachzuspüren; danach verlangte nicht nur Hölderlin, danach strebten auch viele andere bedeutende Geister des 18. und 19. Jahrhunderts. Von einem, vielleicht einem unvermuteten dieser ästhetischen Patmos-Pilger, von Richard Wagner, soll in der vorliegenden Untersuchung die Rede sein. Wagner ließ sich in seinem letztem Musikdrama Parsifal in so nachhaltiger Weise von Bildern und Ideen aus der Johannesoffenbarung inspirieren, dass sein Bühnenweihfestspiel und die Art seiner Zelebrierung im Kunsttempel von Bayreuth in vieler Hinsicht als eine Art modernen apokalyptischen Einweihungstheaters aufgefasst werden kann. Im Rahmen dieser Konzeption, in welchem Wagner den Geist des antiken Mysterienwesens eine neuzeitlich-theatralische Reinkarnation erfahren lässt, spielt der ungeschlechtliche bzw. übergeschlechtliche Held Parsifal als Signifikant eines neuen, durch ästhetisch vermittelte Initiation “ganz” gewordenen Menschen eine bedeutsame Rolle. So kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, den man nicht ohne weiteres mit Wagners opus ultimum verbindet, nämlich der des Androgynen. “Apokalyptik” und “Androgynität” verbinden sich im Parsifal auf eine Weise, in welcher das eine Begriffsfeld nicht vom andern zu trennen ist. Der Androgyn ist die theatralische Inkarnation von Wagners Vision [End Page 68] eines in ästhetisch vermittelter Apokalypse zu zeugenden höheren Bewusstseins; in Bayreuth versucht er, an eine religionsmüde und (seiner Meinung nach) genuiner geistiger Erfahrung entfremdete Generation zu vermitteln, was der Seher von Patmos einst in seiner einsamen Grotte erlebte und welche Relevanz dieses Erlebnis für den modernen Menschen haben kann. Wie in der Ring-Tetralogie die germanische, so wird im Parsifal die jüdisch-christliche Apokalyptik der Moderne als ein Spiegel ihrer geistig-seelischen Gefallenheit, aber auch ihrer bewusstseinsevolutionären Möglichkeiten vorgehalten.

Während die Debatte um die Bedeutung androgyner Vorstellungen in Wagners Werk spätestens seit dem Buch Wagner Androgyn von Jean-Jacques Nattiez in der Forschung seinen festen Platz hat, wurde der nachhaltige Einfluss apokalyptischen Denkens im Parsifal bisher kaum in den Blick genommen. Zwar wurde mehrfach nachgewiesen, zuletzt von Peter Berne, dass apokalyptische Vorstellungen im musikdramatischen Schaffen Wagners insgesamt eine zentrale Rolle spielen, dass Untergangs- und Auflösungsszenarien im Zentrum fast aller seiner Musikdramen vom Fliegenden Holländer bis zur Götterdämmerung stehen und in der Ring-Tetralogie geradezu zelebriert werden; den Parsifal jedoch hat man kaum je ernsthaft mit Apokalyptik in Verbindung gebracht, wohl deshalb, weil das, was man gemeinhin heute als “apokalyptisch” versteht und mit der Johannesoffenbarung assoziiert – Zerstörung, Naturkatastrophen, Krieg, Weltuntergang –, hier augenscheinlich nicht im Zentrum steht.

Und doch, die traditionellen Themen selbst dieses verkürzten Apokalyptik-Begriffs der Gegenwart finden sich durchaus im Parsifal, freilich auf einer subtileren, innerlicheren Ebene als etwa in der Götterdämmerung. Auch hier geht eine Welt unter, wenngleich eine innere; auch hier wird der Kampf des Menschen mit metaphysischen Widersachermächten geschildert, und auch hier ersteht am Ende ein neuer, höherer Mensch und ein neue Welt – bzw. ein neues Welt- und Selbstverständnis. Schon diese allgemeine konzeptionelle Verwandtschaft allein würde eine eingehendere Untersuchung von Wagners Libretto im Kontext apokalyptischen Denkens rechtfertigen. Und geht man dieser Spur tatsächlich einmal nach, so entdeckt man zahlreiche direkte Anspielungen, die eine intensive Beschäftigung mit der mystisch-gnostischen Tradition im Allgemeinen und der Johannesoffenbarung im Besonderen nahelegen. Wagner war, wie Wolf-Daniel Hartwich (1996) nachgewiesen hat, durch intensives Studium, etwa der Schriften August Friedrich Gförers (besonders seiner Kritischen Geschichte des Urchristentums), über die apokryphe Literatur und den Einfluss der jüdischen Mystik auf das frühe Christentum wohl unterrichtet. Viele Züge seiner Gralsgemeinschaft sind, wie Hartwich zeigt, der von Philo geschilderten jüdischen Therapeutengemeinde nachgezeichnet, und gewisse zentrale Vorstellungen aus dem Parsifal, wie etwa der Reinkarnationsgedanke...

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