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  • Wilhelm von Humboldt und die Judenemanzipation: Leistungen und Widersprüche
  • Marjanne E. Goozé (bio)

Noch immer ist umstritten, ob die preußischen Reformen im ersten und zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einem einheimischen “deutschen” Ursprung zu verdanken oder vielmehr als Reaktion auf die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons zu deuten seien. Unbestreitbar ist jedoch, dass die zivile Judenemanzipation der Philosophie und den Idealen der europäischen Aufklärung entsprang. Die Reformen, die die deutschen Juden betrafen, sind als Auswirkung aufklärerischen Strebens zu betrachten. Zweifellos erwuchs für den Gelehrten und Staatsmann Wilhelm von Humboldt die Judenemanzipation, die auf der Identität des Individuums, des Menschen und der Gruppe beruhte, aus dem aufklärerischen Universalisierungsprojekt. Die rechtliche Judenemanzipation ging im besetzten Deutschland mit dem Code Napoleon einher. Die Bestrebungen Wilhelm von Humboldts, den Juden in Preußen und im Deutschen Bund Zivilrechte zu erteilen, waren davon beeinflusst. Im Folgenden soll untersucht werden, wie dieses Emanzipationskonzept in die von Wilhelm von Humboldt vorgeschlagenen Reformen übertragen wurde, als er sich für die rechtliche Judenemanzipation engagierte.

Die biographische Forschung hat Humboldts politischen Beitrag zur Judenemanzipation häufig unterschätzt. Frühe Biographien zu Humboldt – wie die von Bruno Gebhardt, Rudolf Haym und Eduard Spranger – gehen kaum oder überhaupt nicht auf seinen Einsatz für die Judenemanzipation ein. Spätere Studien beschäftigen sich mit wenigen Ausnahmen ebenfalls kaum mit diesem Thema (z. B. Kähler; Sauter; Schaffstein). Unter den Biographen betrachtet Paul R. Sweet Humboldts Verhältnis zu Juden und zum Judentum als einen zentralen Teil der beruflichen Erfahrung und Arbeit. Die historische Forschung jedoch, die sich mit seinem Engagement für die Judenemanzipation auseinandersetzt, führt Humboldts Einsatz für die Juden meist auf seine persönlichen Beziehungen zu einzelnen Menschen jüdischer Abstammung zurück. Jacob Katz z. B. sieht die Ursprünge von Humboldts Interesse an der Judenemanzipation in seinen persönlichen Beziehungen zu den Berliner Salonnières (56). Jeffrey Grossmann verbindet Humboldts linguistische Studien und Bildungsphilosophie mit seiner politischen Arbeit für die Juden. Obwohl Humboldt sich als Sprachphilosoph nicht mit Jiddisch beschäftigte, behauptet Grossmann, dass Humboldts Sprachtheorie [End Page 317] und seine Auffassung vom “deutschen Nationalcharakter” zu seinen anti-jüdischen Einstellungen führten (34–35).

Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die Widersprüche zwischen Humboldts politischen und philosophischen Überzeugungen einerseits und seinen persönlichen Beziehungen und Einstellungen zu individuellen Juden andererseits. Sie beginnt mit einer detaillierten Auslegung seiner öffentlichen Positionen zur Emanzipation zwischen 1809–1816 und diskutiert dann die bestehenden Konflikte in seinem Privatleben. Humboldts politische Ansichten werden hierbei betont, da sie bislang weniger eingehend als seine gesellschaftlichen Beziehungen zu den jüdischen Salonnières sowie insbesondere zu Henriette Herz und Rahel Varnhagen behandelt worden sind. Es wird weitgehend darauf verzichtet, Humboldts Judenpolitik durch sein Privatleben und insbesondere seine Jugendbiographie zu deuten. Seine Privatbriefe allerdings enthüllen sowohl die oft turbulenten Beziehungen und eklatanten Widersprüche zwischen seinen beruflichen Anstrengungen und seinem persönlichen Verhalten gegenüber einzelner Juden als auch widersprüchliche Stellungnahmen gegenüber Juden und zum Judentum innerhalb seines Privatlebens. Private und öffentliche Äußerungen enthüllen Humboldts widersprüchliche Stellungnahmen, jedoch sind seine politischen Ansichten nicht direkt von seinen privaten abzuleiten. Auch wird vermieden, Humboldts innere und öffentliche Konflikte und Motivationen psychologisch zu analysieren. Durch die Auslegung seiner Stellungnahmen und Beziehungen soll vielmehr verdeutlicht werden, dass es Humboldt zum einen nicht möglich war, offensichtliche Widersprüche als solche zu erkennen, er zum anderen aber dennoch öffentlich für die Judenemanzipation eintrat. Die Unstimmigkeiten, die in seiner Politik, Emanzipationsphilosophie und in seinen persönlichen Freundschaften zu Tage treten, sind vielmehr ein Beispiel für die Haltung, die seine Generation allgemein zum “Judenproblem” einnahm.

Ein zentraler Gedanke des jungen Humboldt war das Verhältnis von Individuum und Staat, was insbesondere zur Entwicklung seiner Bildungstheorien führte. Clemens Menze charakterisiert Humboldts Gesamtwerk mit den Worten: “Bezugspunkt der Humboldtschen Studien ist die menschliche Individualität” (146). Humboldts Beitrag zur Emanzipationsdiskussion spiegelt seinen Versuch wider, zwischen den konkurrierenden Interessen des Staates und denen des Individuums eine Balance zu finden (Sorkin 66–69). Von Februar 1809 bis Juni 1810 leitete er die Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium (Baumgart...

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