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  • “Zwillinghafte Gebärden”: Zur kulturellen Wahrnehmung des vierhändigen Klavierspiels im neunzehnten Jahrhundert
  • Peter Höyng
Adrian Daub, “Zwillinghafte Gebärden”: Zur kulturellen Wahrnehmung des vierhändigen Klavierspiels im neunzehnten Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009. 275 S.

Adrian Daubs wunderbare Studie Zur kulturellen Wahrnehmung des vier-händigen Klavierspiels im neunzehnten Jahrhundert lässt sich sprachlich hinsichtlich [End Page 298] seines Themas und zeitlichen Rahmens kaum kürzer bündeln; es sei denn man borgt sich, wie der belesene Autor es tut, jenen chiffreartigen Kurztitel, “zwillingshafte Gebärden,” aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, erstmals publiziert 1930. Letzteres Datum markiert den Endpunkt des langen neunzehnten Jahrhunderts—eine dem Periodisierungswahn sich entgegenstemmende Formel, die der Autor nur zu gerne wiederholt—auf doppelte Weise: zum einen, weil der Roman nach den mörderischen Kataklysmen des Ersten Weltkrieges geschrieben wurde und zum anderen, weil er einen retrospektiven Blick auf die Zeit vor den Ersten Weltkrieg in die sog. Parallelaktion als Rahmenhandlung und -figuren einschreibt. Und gerade Musils gedoppelte Perspektive ist es, die auch Daub gegenüber seinem passionierten Gegenstand einnimmt: “Vierhändiges Klavierspiel war einmal ganz anders, als es heute ist— und Teil unserer Arbeit wird darin bestehen, ein Massenphänomen wieder aufleben zu lassen, von dem wir vergessen haben, dass wir es vergessen haben” (35).

Bevor ich des Weiteren versuche, der nach der Einleitung in acht Kapiteln essayistisch gefärbten Untersuchung nur deshalb einige Facetten abzugewinnen, um das Interesse zur Lektüre so gut wie möglich zu wecken, einen Augenblick dabei zu verweilen, warum ein solches Buch auch gerade im Goethe Yearbook vorzustellen sinnvoll ist, obwohl es doch erklärtermaßen um ein Phänomen geht, dass zwar erstmals in Jean Pauls Titan (1800) erwähnt, aber handlungstragend “erst in der Literatur der Jahrhundertmitte [wird]” (13). Fontane, Mörike, Storm und das volksorientierte Theater enthalten und beschreiben eben folgende Szenen: “Vierhändig spielte man in Salons und im Familienkreis, übte man in Klavierschulen und repräsentierte man für Gäste. An der Klaviatur trafen sich Mütter und Söhne, Lehrer und Schüler, Geschwister, Liebhaber und Kollegen” (12). Gerade dieses Changieren zwischen Haus- oder Kammermusik einerseits und Salonmusik andererseits lässt die Nähe und Distanz zu einem von Goethe und seinen Zeitgenossen favorisierten Ideal klassizistisch gebändigter Häuslichkeit, wie man sie beispielsweise in den Wahlverwandtschaften antrifft, aufleuchten. Doch nachdem die Klavierproduktion normiert wurde, mutierte das vierhändige Klavierspiel im 19. Jahrhundert zu einem vom Bürgertum zur Schau gestellten Ideal am “tönenden Herd” (“sonic hearth,” Thomas Christensen, “Four-Hand Piano Transcription,” JAMS 52.2 [1999]), das unweigerlich die Akkordarbeit (so der Titel des sechsten Kapitels) der industrialisierten Welt beinhaltete, die es jedoch eskapistisch zu kaschieren galt. Inwiefern eben jenes Bürgertums an seinen Glauben, durch die semi-private Sphäre des vierhändigen Klavierspiels einem Bildungsauftrag und -ideal nach Goethe an sich vollziehen zu können, scheiterte, wird von Daub mit Verve vorgeführt und zerlegt.

Seine meisterhafte Untersuchung lässt sich anhand dreier Charakteristiken ablesen: des enzyklopädischen Umfangs, kunstvollen Changierens von Materialien und Analysevarianten, und der scheinbar mühelos parlierenden bisweilen oft brillierenden Darstellung.

Zum einen ist da Daubs beeindruckender Leseumfang. Sei es, dass er mal auf bekannte literarhistorische Texte verweist, wie etwa Musils besagten Mann ohne Eigenschaften, oder aber sich den unbekannt gewordenen historisierenden Grillparzer-Roman (1913) von Johann Anton Lux vorknöpft. Ebenso souverän und umfassend nehmen sich die literaturtheoretischen bzw. -philosophischen Verweise aus; sei es, dass einmal kurz Judith Butlers gender-Reflektionen wie selbstverständlich einfließen (16), oder aber immer Walter Benjamins Passagenwerk wie ein guter Bekannter kurz vorbei schaut, hingegen Max Webers [End Page 299] selten zitiertes Werk Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (1921) ebenso wie Siegfried Kracauers kritische Beobachtungsgabe herangezogen werden; und, wie zu erwarten, wird mehrfach auf Theodor W. Adorno zurückgegriffen. Neben diesem umspannenden literaturhistorischen und literaturtheoretischen Netz scheint es daher ebenso selbstverständlich, dass auch musikhistorische Schriften aller Art nicht minder gründlich berücksichtigt werden: so begegnet dem Leser Christian Friedrich Daniels Schubarts Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1806) wie auch Eduard Hanslicks Geschichte des Concertwesens in Wien (1869), zusammen mit der Sekundärliteratur aus...

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