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  • “Aus dieser fingierten Welt in eine ähnliche wirkliche versetzt”?: Die Theorie der Autobiografie und ein postmoderner Goethe
  • Robert Walter

Dichtung und Wahrheit und die Theorie der Autobiografie

Als die Autobiografietheorie Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland so richtig in Gang kam, übertraf ein Text in seiner Prägekraft für den neuen Wissenschaftszweig bei weitem alle anderen: Goethes Dichtung und Wahrheit.1 Besonders wirkungsvoll war dabei wohl Wilhelm Diltheys Rückgriff auf Goethes Jugendautobiografie. “Die Selbstbiographie”—so Dilthey—“ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.” Eine besondere “Intimität des Verstehens” ergibt sich für Dilthey daraus, dass “der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch [ist] mit dem, der ihn hervorgebracht hat”—die Autobiografie ist für den Hermeneutiker Dilthey die hermeneutische Textsorte schlechthin. Goethe verhalte sich in Dichtung und Wahrheit “universal-historisch zu seiner eigenen Existenz” und erfahre darin jeden Moment seines Lebens “als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang des Lebens hineinwirkende Kraft.” So gesehen, erweist sich Dichtung und Wahrheit als idealer Spiegel der hermeneutischen Grundgedanken Diltheys, die ein selbstgewisses Subjekt im Zusammenspiel mit seiner Welt voraussetzen.2

Diltheys Schüler Georg Misch war es dann, der die Ideen des Lehrers systematisch zu einem autobiografietheoretischen Konzept umformte. Goethe erscheint darin als eine Art Endpunkt der Entwicklung: Ihm, mit seiner “allumfassenden Erfahrungsbreite der Menschheit,” sei es vorbehalten gewesen, “die höchste Aufgabe der biographischen Geschichtsschreibung zu entdecken,” nämlich die Darstellung des Menschen in seinen Zeitverhältnissen. Die Autobiografie kommt hier gewissermaßen zu sich selbst in der Schilderung von “Selbsterkenntnis” als Nachvollzug der “tätigen Beziehung des Subjekts zu den objektiven Gestalten des Lebens.”3 Spätestens bei Misch wird deutlich, wie emphatisch diese Strömung der Autobiografietheorie sowohl an das sich seiner selbst gewisse Subjekt als auch an die Referenzialisierbarkeit des Geschilderten an einer objektiven Außenwelt gebunden ist. Die Autobiografie des großen Dichters ist Misch historisches und psychologisches Dokument—dass sie als Kunstwerk wahrgenommen werden könnte, kommt nicht in den [End Page 231] Blick. Die Theoretiker der Jahrhundertwende stehen noch voll im Bann eines Dichters, dessen “allseitige Genialität”4 einen bestimm ten Rezeptionsmodus nahezulegen scheint, der sich von der Annahme, das bewunderte Dichtersubjekt sei eine geschlossene und fest gefügte Entität, kaum wegbewegen kann.

Bis in die 1970er Jahre wirkte dieses Modell unangefochten fort,5 so etwa ganz im Sinne der Vorläufer bei Ingrid Aichinger, bei der das zentrale Kapitel ihres Theoriekonzepts folgenden Titel trägt: “Abgrenzung des Idealtypischen (Goethe: ‘Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit’).”6 Goethes Text ist hier der Idealtypus, der der Theoriebildung zugrunde gelegt wird. Dieser unumschränkte “Klassiker der Autobiographie” brachte dem Text, wie Martina Wagner-Egelhaaf ausführt, einen Rezeptionsmodus ein, der lange Zeit zum Problem der Einseitigkeit führte: “Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein erschien Dichtung und Wahrheit als Zeugnis der bedeutungsvollen Selbstgegenwärtigkeit eines mit sich identischen und zugleich über sich hinauswachsenden Geistes”;7 ein Zusammenhang, in dem Gerhart von Graevenitz zu Recht betont, dass Dichtung und Wahrheit “eine Art Leitfossil” für “organische Einheit und Totalität des Ich” geworden sei.8 Beispiele für diese Lesart des Textes sind etwa Emil Staigers Wahrnehmung des autobiografischen Helden als “organisches, folgerichtig entwickeltes Kunstwerk,”9 auch Dieter Borchmeyer tendiert—noch deutlich später—in eine ähnliche Richtung, wenn er Dichtung und Wahrheit als “durchaus affirmative Selbstdarstellung eines bedeutenden Individuums in seinen historischen Bezügen” liest.10 Nicht von einem derartig in sich ruhenden Ich überzeugt sind andere Autoren: In umgekehrt psychologischer Richtung haben beispielsweise Walter Muschg, Hans Mayer und Klaus-Detlef Müller den Text interpretiert, wenn sie die Autobiografie als Kompensationsinstrument für die Erfahrung eines Autors gelesen haben, dem, so die Einschätzung, das Unzusammenhängende und die vermeintliche Erfolglosigkeit des eigenen Schaffens auf der Seele gelegen hätten.11 Gemeinsam ist diesen diver-gierenden Positionen eines: Sie rekurrieren auf die Erfahrung eines Ichs, die sie im Text niedergelegt sehen. Wenn auch die Autobiografie dabei nicht notwendig als Quellentext zur Biografie Goethes gelesen wird—was oft genug geschehen ist12—, wird dennoch im Hinblick auf die individuelle Erfahrung des Dichters von der Referenzialität des Textes ausgegangen...

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