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  • Fiktive Fakten? Demographische Konzepte in Zukunftsentwürfen von Björn Kern und Jörg Lühdorff
  • Miriam Seidler (bio)

Wie unsere Welt in der Zukunft aussehen wird, hat die Menschen immer wieder beschäftigt. In Literatur und Film wurden Gedankenspiele angestellt, Utopien und Anti-Utopien entwickelt, die versuchen, aktuelle Tendenzen und Probleme fortzudenken. In der Gegenwart ist es vor allem ein Schlagwort, das im Kontext zukünftige Entwicklungen genannt wird: der demographische Wandel. Der an sich neutrale Begriff wird im öffentlichen Diskurs mit Problemen in Verbindung gebracht, die aus der Gleichzeitigkeit von steigender Lebenserwartung und sinkenden Geburtenraten hergeleitet werden. Es sind nicht mehr die in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Bedrohung entworfenen Szenarien der Überbevölkerung, wie sie z.B. in dem amerikanischen Film Soylent Green aus dem Jahr 1973 thematisiert wurden, die die Phantasien im 21. Jahrhundert bewegen. Das neue Schreckbild der schrumpfenden und alternden Gesellschaft lautet Vergreisung.

Die wissenschaftliche Fundierung für Zukunftsentwürfe liefert in der Regel nicht die Zukunftsforschung, sondern die Demographie. Das Material für Zukunftsentwürfe stellt für die Bundesrepublik Deutschland u.a. das Statistische Bundesamt mit der Bevölkerungsvorausberechnung zur Verfügung. In regelmäßigen Abständen werden die Daten – rückläufige Geburtenzahlen, ansteigender Altenquotient, Zunahme pflegebedürftiger und dementer alter Menschen – in der Presse verhandelt und in populärwissenschaftlichen Schriften wie Das Methusalem-Komplott von Frank Schirrmacher und Kampf der Generationen von Reimer Gronemeyer zur Voraussage gesellschaftlicher Krisenszenarien herangezogen. Vor allem die Aufrechterhaltung des Sozialversicherungssystems und eine mögliche Auflösung des Generationenvertrags dominieren die öffentliche Diskussion.

Aufgrund der rasanten Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung und des zunehmenden Interesses der Öffentlichkeit entwickelt sich die Demographieforschung nach einem jahrzehntelangen Schattendasein wieder zu einer der Leitwissenschaften in der Bundesrepublik (Barlösius 14). Das Datenmaterial selbst, die aktuellen Schaubilder sind es aber nicht, die das Interesse der Bevölkerung, der Publizisten und Kunstschaffenden erregen. Bedeutung erhalten die Daten durch die Narrationen, die mit ihnen verbunden [End Page 51] sind. Die Soziologin Eva Barlösius analysiert in ihrem Beitrag Zur Demographisierung des Gesellschaftlichen die wissenschaftliche Nutzung von Daten und Statistiken der Bevölkerungsentwicklung. Sie verweist darauf, dass bereits die Art und Weise, wie die Daten dargestellt werden, ein narratives Moment enthält. Zur Beschreibung des wissenschaftsgenerierten Materials und des ihm innewohnenden interpretatorischen Moments verwendet sie den Begriff der “demographischen Repräsentation.” Diese beschreibt sie als “Arten und Weisen, die Bevölkerungsentwicklung und –zusammensetzung darzustellen” (14). In ihrer Analyse beschränkt sie sich auf “wissenschaftsgenerierte Repräsentationen, also solche, die mit wissenschaftlicher Expertise erzeugt wurden, aber nicht notwendig im wissenschaftlichen Feld im engeren Sinn. Entscheidend ist vielmehr, dass ihnen wissenschaftliche Geltung zuerkannt wird” (14–15). Im Anschluss an diese Überlegungen untersucht Barlösius am Beispiel demographischer Schaubilder die Bedeutungsproduktion, die mit den verschiedenen demographischen Darstellungsmöglichkeiten einhergeht.

Auch in kulturellen Artefakten, wie in Literatur und Film, wird das demographische Datenmaterial interpretiert. Allerdings lässt sich hier eher eine Anregung durch Prognosen festhalten, ohne dass jedoch von einer wissenschaftlichen Geltung gesprochen werden kann, wie diese den demo-graphischen Schaubildern zukommt. Die Fiktion verarbeitet die Daten in einem doppelten Sinn. Das Datenmaterial kann einerseits als Auslöser für die Entwicklung von Zukunftsentwürfen angesehen werden. Andererseits verbürgen die wissenschaftlichen Fakten die Glaubwürdigkeit der fiktiven Zukunftsmodelle, da sie eine kausale Herleitung der fiktionalen Welt aus der Gegenwart suggerieren. Die erzählte Welt bleibt somit nicht dem Bereich der Phantastik verhaftet, sondern erhebt den Anspruch einer realistischen Darstellung. Die Artefakte stellen folglich eine Interpretation der Daten dar, die über die Bedeutung der Schaubilder insofern hinausgeht, als nicht nur bestimmte Aspekte wie z.B. die Auflösung des Generationenvertrags, die Überalterung der Gesellschaft oder die Verödung von bevölkerungsarmen Landstrichen berücksichtigt werden. Künstlerische Darstellungen nutzen die Daten als Anregung für den Entwurf eines Zukunftskonzeptes, das die gesamte erzählte Welt und damit alle Elemente der Lebensrealität umfasst. Um diese Differenz zum Ausdruck zu bringen, spreche ich hier nicht von demographischen Repräsentationen, sondern verwende stattdessen den Begriff des demographischen Konzepts. Unter demographischen Konzepten verstehe ich die Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft, die sich aus Artefakten abstrahieren lässt und auf der Basis demographischer Daten entwickelt wurde. Mich interessiert im Folgenden, wie...

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