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  • Der gläserne Raum: Paul Scheerbarts Utopie einer Glasarchitektur
  • Andre Schuetze (bio)

Was? Sie haben kein buntes Glas, rosa Glas, rotes, blaues, magisches, paradiesisches Glas? Sie Unverschämter! Sie wagen es, in einem Armenviertel herumzulaufen, und Sie haben nicht einmal Scheiben, durch die man das Leben in Schönheit sieht!

(Baudelaire 141)

Einer offenen Veranda gleich liegen die Häuser der Stadt Valdrada am Ufer des Sees, so dass ihre Bewohner wie in einem Spiegelbild im Wasser sichtbar werden. Italo Calvino beschreibt in Die unsichtbaren Städte die Visionen und Träume des Reisenden Marco Polo von noch nie gesehenen Orten. Doch Valdrada erscheint merkwürdig vertraut. “Die Einwohner von Valdrada wissen, daß alle ihre Handlungen die Handlung und ihr Spiegelbild zugleich sind, dem die besondere Würde der Bilder angehört, und dieses Bewusstsein verbietet ihnen, sich auch nur einen einzigen Augenblick dem Zufall oder dem Vergessen hinzugeben” (62–63). Die Mauern, die Sichtblenden der Wohnung sind weggefallen, alles liegt offen vor uns, das Haus ist ganz Veranda, besteht ganz aus Glas. Valdrada ist so nicht nur die unsichtbare Stadt der Träume, sondern auch die unsichtbare Stadt der Räume – die Architektur verschwindet und der Mensch wird sichtbar.

Kein anderer Baustoff verbindet sich so ideal mit dieser Vision der Sicht-barkeit und Transparenz wie das Glas. Häuser aus Glas sind im wesentlichen eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, in Verbindung mit dem Eisen wurden aus anfänglich noch kleinen Gewächshäusern, Gartenpavillons und Veranden der Kristallpalast, die Passagen und die Bahnhofshallen. Heute ist Glas als Baustoff nicht mehr aus der modernen Architektur fortzudenken. Paul Scheerbart gilt mit seinem 1914 erschienenen Buch Glasarchitektur, aber auch mit vielen seiner Romane und Erzählungen, als einer der wichtigsten und einflussreichsten Visionäre dieser neuen Form des Bauens.

Scheerbarts Glasarchitektur soll hier in Verbindung zu gängigen Topoi von Utopieliteratur vor allem auf ihren utopischen Gehalt untersucht werden. Unterschiede aber auch gerade Gemeinsamkeiten zu klassischen Utopien sollen aufgezeigt werden. Glas aber ist nicht nur ein Baustoff der Utopien, der Klarheit, Offenheit und Übersichtlichkeit verspricht, seine Transparenz ist zugleich die Möglichkeit des Beobachtens und der Überwachung. Im Zusammenhang mit Michel Foucault soll deshalb auch auf diese dystopische [End Page 31] Funktion des Glases eingegangen werden, die untrennbar mit seinen positiven Konnotationen verbunden ist.

Die Hölle ist ein Schauplatz in Scheerbarts erstem Buch. Doch dieses Inferno ist nichts anderes als die Abbildung der realen Welt, denn Das Paradies: Die Heimat der Kunst von 1889 beschreibt den Weg einer Delegation aus dieser Höllenwelt in die Gefilde des Himmels. Wie in traditionellen utopischen Texten, wird der Entwurf einer Gegenwelt dargestellt, und schon hier tauchen die für Scheer-bart typischen Träumereien über Architektur auf, ein Thema, das ihn nicht mehr verlassen wird. “Sein Architekturideal war idealistisch, eine merkwürdige Mischung aus Jugendstil und Expressionismus. Er wollte Schwerelosigkeit und Immaterialität, keinen Formalismus und keinen Funktionalismus. Er glaubte fest an die moralische Wirkung von Form und Material; so träumte er von einer ganzen Glas- und Kristallkultur” (Ohff 259). Selbst in Scheerbarts astraler Literatur, etwa dem Lesabèndio, geht es um Bauprojekte. Lesabèndios Turm, der den Planeten Pallas mit dem “Kopfsystem,” einer lichtspendenden Wolkenformation, verbinden soll, ist von seiner Konstruktion als “ein teilverglaster Stahlskelettbau” (Speier 332) mit den Glasbauten zu vergleichen.

Scheerbarts Präferenz leichter, durchscheinender Gebäude ist eng mit den Veränderungen der Architektur in seiner Zeit verbunden. Während noch immer der größte Teil der Häuser aus traditionellen Materialien errichtet wurde und gerade die offiziösen Bauwerke des Wilhelminismus von steinerner Wucht und Monumentalität bestimmt waren, richtete sich die Avantgarde immer mehr zu den neuen Baustoffen Glas und Eisen. “Kunst, Kunstgewerbe und Architektur sind am Ende des 19. Jahrhunderts durch einen Linearismus geprägt, der zunächst nichts anderes anzeigt als eine Tendenz zur Entstofflichung, zur Verschlankung, ein Abgehen von Masse und ungegliederter Fläche” (Asendorf, “Ströme und Strahlen” 85). Vor allem der Kristallpalast von Joseph Paxton hatte mit seiner feenhaften Erscheinung eine enorme Faszinationskraft auf die moderneren Bauten ausgeübt. Frank Lloyd Wright etwa sprach schon 1901 von der kommenden Ätherisierung der Architektur (Schulz 100).

Zugleich hat gerade am Ende des 19. Jahrhunderts...

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